Der eigentliche „neue Antisemitismus“

Erstveröffentlichung: http://lifeaftergonzales.blogspot.com/2008/09/der-eigentliche-neue-antisemitismus.html, 22. September 2008

Ein
Gutes hatte der sog. Antiislamisierungskongreß vergangener Woche: Die
Herren Entislamisierer haben nämlich unmißverständlich deutlich
gemacht, was jeder halbwegs vernünftige Betrachter bereits seit Langem
weiß. Seit 1945 hat sich freilich vieles geändert. Das Land, in dem es
einst alles zu „arisieren“ galt, hat jetzt eine erstaunlich vielfältige
und multikulturelle Gesellschaft vorzuweisen. Selbst der braune
Restbestand holt sich erst mal Döner oder Schawarma vor dem
allnächtlichen Klatschgang. In einem Land, in dem einst der häßlichste
Antisemitismus der Geschichte zum Vorschein kam, blüht jüdisches Leben
allmählich wieder auf (in manchen Germanistikstudiengängen kann man
inzwischen sogar Jiddischkurse belegen).

Doch
eins ist im euroamerikanischen Kulturkreis beim Alten geblieben: die
ethnisch-kulturell-religiös definierte Zielscheibe. Gestern hat man
gegen die „Verjudung“ Europas gewittert; heute hetzt man gegen eine
erfundene „Islamisierung“ (daß Juden hierbei nicht mehr als
Zielscheibe, sondern als politisches Schutzschild, verwendet werden,
ist ein weiteres Zeichen gesellschaftlichen Wandels). Die Rechte ist
dieselbe geblieben; nur das Feindbild hat sie gegen ein neues
ausgetauscht.

 

Interessant
ist hierbei zu bemerken, daß eigentlich nur die Namen ausgetauscht
worden sind. Sogar die Stereotypen, sowie die Ängste, die es zu schüren
gilt, sind 2008 dieselben wie 1930. Damals galt die
gesellschaftlich-politische Ausgrenzung vor allem den sog. Ostjuden (auch
„Galizier“ genannt). Die Ostjuden kamen v.a. aus Polen und Rußland,
lebten erst in der 1. oder 2. Generation in Deutschland, waren
größtenteils arm, und hingen sehr an ihren heimischen Bräuchen und
Traditionen. Sie sprachen eher Jiddisch als Deutsch, und blieben –
nicht zuletzt wegen der sozialen Ausgrenzung – lieber unter sich. Nach
dem heutigen Sprachgebrauch würde man ihnen „mangelnden
Integrationswillen“ bescheinigen. Häufig wurden sie den heimischen,
assimilierten, eher gutbürgerlichen deutschen Juden gegenübergestellt,
die sich ebenfalls von ihnen distanzierten. Eine der ersten
großangelegten antisemitischen Maßnahmen nach der sog.
„Machtergreifung“ war die Massenabschiebung sämtlicher Ostjuden. Die
Ostjuden galten als dreckig, hinterlistig und kriminell, sowie als die
Träger fremder Einflüsse. Sie waren, so die gängigen rechten Parolen,
an allem schuld, woran man nur schuld sein konnte: Arbeitslosigkeit,
Armut, gesellschaftlichen Unruhen, usw.

So
hat z.B. ein preußischer Polizeipräsident 1920 geschrieben: „Die
Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern um
höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und
wohlwollenden Behandlung künftig politisch, wirtschaftlich und
gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen(1)“. Ihnen wurde in antisemitischen Postkarten eine „
Freifahrkarte nach Jerusalem… hin und nicht wieder zurück“ angeboten(2).

Die
Physiognomie des jüdischen ‚Schmarotzers’, der als dunkelhaariger Mann
mit langem Haar und Bart, mit hagerem Gesicht, Schirmmütze und Peies
dargestellt wurde, diente zur Visualisierung des unmaskierten ‚wahren’
Juden, der allerdings aufgrund seiner Assimilationsfähigkeit in die
Rolle des zivilisierten Westeuropäers schlüpfen könne; doch ‚die
äußerliche Erscheinung ändere nichts an der rassischen Andersartigkeit
und ihrem parasitären Charakter(3)’.“

Ein Grundzug der Propaganda war also, daß (Ost-)Juden absolut, unnahbar anders seien,
so daß eine rationale Auseinandersetzung oder ein friedliches
Zusammenleben mit ihnen schlichtweg undenkbar sei. Nur als Gegner könne
man sie verstehen.

Der
Vergleich zum heutigen Zustand liegt wohl auf der Hand. Nur das
Feindbild hat sich geändert. Ostjuden sind kein geeignetes Feindbild
mehr, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie größtenteils ermordet
worden sind. Der nationalsozialistische Massenmord hat auch die
Einstellungen im euroamerikanischen Kulturkreis zum Judentum, und
deshalb auch zum traditionellen Antisemitismus, grundlegend geändert.
Heute werden alte NS-Sprüche wie „Juden raus“ nicht nur allgemein
verachtet, sondern auch noch strafrechtlich geahndet (anders aber
„Türken raus“ o.ä.). An die Stelle des traditionellen, wie auch des
nationalsozialistisch verschärften Antisemitismus ist ein
Philosemitismus getreten, der aber in manchen Hinsichten – wie z.B. die
häufig unkritische Einstellung zur israelischen Politik – den Juden
eher schadet als nützt. An die Stelle der Ostjuden als Gegenstand
nationalistischer Hetze – das bestätigt erneut der
„Antiislamisierungskongreß“ – sind die Muslime getreten.

Schon
am Sprachgebrauch ist das zu erkennen. Nicht umsonst nennt die Rechte
das Zusammenleben mit Menschen islamischen Glaubens und nahöstlicher
Kultur „Islamisierung“. Damit soll nämlich zum Ausdruck gebracht
werden, daß es sich nicht um Menschen wie dich und mich handele,
sondern um gefährliche Unterwanderer, vor denen die
„abendländisch-christliche“ Kultur hermetisch abzuriegeln sei. Daß die
heutigen Inhaber der Ostjudenrolle sich nicht nur sprachlich, kulturell
und religiös, sondern auch noch häufig aufgrund der Hautfarbe, von
„uns“ unterscheiden, ist hierbei ein kleiner Pluspunkt (die
Herstellungskosten gelber Halbmonde o.ä. kann man sich nämlich sparen).

Wenden
wir uns den heutigen Propagandisten einer vermeintlichen
„Islamisierung“ zu, sehen wir einen Umgang mit dem „Gegnervolk“, der
dem damaligen politischen Umgang mit den (Ost-)Juden verblüffend
ähnlich sieht. Der Bau von Moscheen – wie einst der Bau von Synagogen –
wird als „Drohung“ bezeichnet, der man sich entgegensetzen müsse. Als
typische Beispiele der islamischen Ausländer, die die deutsche
Gesellschaft bevölkern, und die die Mehrheitsverhältnisse in der
Bundesrepublik „[u]m[zu]kippen“ drohen, führt ein sog. Minority Report über die „Islamisierung“ an:

„Muslime,
die ihren deutschen Hausfrauen drohen, ihnen ‚die Hand abzuhacken’,
wenn sie einen anderen Mann auch nur anschauen (…). Oder
analphabetische Patriarchen, die ihre Familienangelegenheiten mitten in
Berlin nach dem Hausbrauch afghanischer Bergvölker regeln. Die Symptome
(!) sind so unterschiedlich wie auch die Ansichten darüber, was schon
eine Parallelgesellschaft ist und was noch nicht.“(4)

Derselbe Report betont
eine vermeintliche muslimische „Geheimniskrämerei“, und fragt
rhetorisch, „Was denken diese Leute wirklich von uns, wenn sie unter
sich sind?“(5)
Hoffentlich
sind wir diesen Verbreiter von Haß und Gewalt bald los! Doch wenn Staat
beziehungsweise Land schon einmal Härte zeigen, folgt gleich die
Beschwichtigung, er sei ja nur eine Ausnahme, alle anderen seien doch
lieb und nett. Sind sie das wirklich? Was wissen wir denn, was in den Moscheen gesprochen und verkündigt wird?“ (Hervorhebung von mir) heißt es in einem von demselben Report zitierten Leserbrief im Berliner Morgenpost.
Einzelheiten zur angedeuteten „muslimischen Weltverschwörung“ werden wir sicherlich demnächst in den Protokollen der Weisen von Arabien erfahren.

Gewalt,
Kriminalität, Verschwörungen und Frauenschändung gehören also schon zum
neuen Feindbild (wie auch in etwas anderer Form zur alten). Es bleibt
dann nur noch das unnahbare Anderssein übrig. Doch auch das stellt uns der Verfasser des Report gern zur Verfügung. „
Hinzu kommt,“ zitiert der Report einen Artikel des rechtsradikalen Blatts Junge Freiheit,daß
die Zuwanderung statt aus modernen und bildungsorientierten aus
archaischen Gesellschaften erfolgt, und zwar aus deren Unterschichten.
So weisen die migrantischen Jugendlichen in Kreuzberg einen
durchschnittlichen Intelligenzquotienten von 86 auf, ein alarmierendes
Unterschichtenindiz, denn erst ab 105 beginnt die höhere
Gesellschaftsfähigkeit
(6).“ Ein Dialog sei also undenkbar, weil die „gesellschaftsunfähigen“ Muslime rein geistig nicht in der Lage seien, einen zu führen(7).

In
beiden Fällen werden also völkisch, sprachlich, religiös und kulturell
definierte Feindbilder heraufbeschworen, die Europa angeblich
unterwandern und erobern werden. Wie die Ostjuden wegen ihrer jiddisch-
und hebräischsprachigen Gottesdienste werden die Muslime wegen der
Führung von Gottesdiensten in ihren jeweiligen Muttersprachen
verdächtigt. Die Gebetsstätten selbst werden als geheimnisvolle
Verschwörungsstandorte beschrieben, in denen „die“ alles mögliche über
„uns“ sagen, ohne daß „wir“ es mitbekommen.

Der
im Titel dieses Aufsatzes verwendete Begriff des „neuen Antisemitismus“
ist freilich ein unpräziser. Zwar sind viele Muslime Araber, und damit
auch semitischer Herkunft; dies trifft jedoch nicht z.B. auf Türken und
Afghanen zu. Vielmehr soll mit dem Begriff zweierlei verdeutlicht
werden. Zum einen soll dem als Schimpfwort für (auch jüdische)
Israelkritiker verwendeten „neuen Antisemitismus“ eine weniger
realtitätsfremde Bedeutung entgegengesetzt werden. Zum anderen soll
durch die Verwendung des Antisemitismusbegriffs betont werden, daß
beide Feindbilder dieselbe gesellschaftliche Funktion ausüben. So wie
der Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerle“ die Angst und Wut
der weniger begüterten Schichten auf eine Zielscheibe lenkte, die eine
Fundamentalkritik am Kapitalismus verhinderte, lenkt der heutige
Islamisierungswahn von den ökonomisch-politischen Prozessen ab, denen
man Massenarbeitslosigkeit, sozialen Abstieg und Hoffnungslosigkeit
wirklich zu verdanken hat.


[1] Zit. n. http://www.ruhr-uni-bochum.de/bsz/516/516lager.htm

[2] Zit. n. Judith Kessler, Ausstellung: „Gruß aus Bad Kissingen“: Eine Ausstellung im Kommunikationsmuseum befaßt sich mit judenfeindlichen Postkarten, http://www.berlin-judentum.de/news/2004/01/postkarten.htm

[3] Zit. n. Diana Carmen Albu, „Der ewige Jude“ – Geschichte und Hintergründe eines NS-Propagandafilmes, http://david.juden.at/kulturzeitschrift/50-54/Main%20frame_Artikel54_Albu.htm

[4] Minority Report, S. 20, erhältlich unter: http://www.islamisierung.info/file/Minority_Report.pdf

[5] Ebenda, S. 22

[6] Ebenda, S. 30, Hervorhebung im zit. Werk.

[7]
An diesem Zitat erkennt man auch einen der wichtigsten Unterschiede
zwischen dem traditionellen europäischen Antisemitismus und dem
heutigen Islamisierungswahn. Den (weißen) europäischen Juden
bescheinigte man nämlich meist eine überdurchschnittliche Intelligenz
und eine vermeintlich damit einhergehende „Gerissenheit“, die einen
ehrlichen Dialog unmöglich machte. Den größtenteils nichtweißen
Muslimen hingegen spricht man die Dialogfähigkeit wegen ihrer
vermeintlich unterdurchschnittlichen Intelligenz ab.

Post Scriptum: Seit
dem gescheiterten Antiislamisierungskongreß werden von rechter Seite
die Antifa- und sonstigen Gegendemonstranten als "Nazis" und
"Faschisten" beschimpft. Das ist an und für sich nicht überraschend.
Aber es drängt sich da eine Frage auf: Was wäre eigentlich gewesen,
wenn den Gesinnungsgenossen der heutigen Herren Entislamisierer 1932
eine ähnliche Begrüßung begegnet wäre wie letzte Woche in Köln?