Krise, Rettung, Wohlstand

Um begreifen zu können, worum es geht, wenn in Elitekreisen von „Krise“ die Rede ist, wird der vernünftige Betrachter selbstverständlich gewisse Grundsatzfragen stellen. Eine erste Frage beträfe die Lage vor der derzeitigen Krise: Was ging in der Gesellschaft vor, bevor die Krise ausgerufen wurde? Eine Untersuchung des vorherigen Zustands ermöglicht es, wertvolle Einsichten in den Krisenbegriff der herrschenden Eliten zu gewinnen. Eine weitere, damit zusammenhängende Frage beträfe die von der Regierung zur Bewältigung der Krise vorgeschlagenen und ergriffenen Maßnahmen: was wird auf unmittelbare, und was auf mittelbare Weise gemacht? Was wird garantiert, und was wird dem Zufall überlassen? Die Annahme scheint vollkommen angemessen, daß das, was eine Person bzw. Institution für wesentlich hält, höchstwahrscheinlich nicht als erhofftes Nebenprodukt der Handlungsweise der betreffenden Person bzw. Institution behandelt werden wird. Generell überantwortet man seine wirklichen Prioritäten nicht dem Zufall. Desweiteren ist es aufschlußreich zu fragen, wer die Hauptnutznießer der ergriffenen Maßnahmen sind und auf wessen Kosten diese ergriffen werden. Daß diese Fragen – wenn überhaupt – höchstens am Rande der öffentlichen Debatte gestellt warden, ist an und für sich aufschlußreich.

Die „Unkrise“


Die Jahre, die der derzeitigen Krise unmittelbar vorausgingen, waren durch zweierlei Grundzüge gekennzeichnet: einerseits durch steigende Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in Verbindung mit stagnierenden bzw. sinkenden Reallöhnen und drastischen Sozialkürzungen, und andererseits durch immer weiter steigende Rekordgewinne und enorme Vermögenskonzentration.  Über 30 Millionen Amerikaner litten Hunger, 12 Millionen Kinder waren dermaßen unterernährt, daß sie sich in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung beeinträchtigt sahen, 49 Millionen Amerikaner hatten keine Krankenversicherung, und diejenigen, die in den Genuß einer KV kamen, durften sich sicher sein, daß ihre „Versicherung“ keine Kosten scheut, wenn es darum geht, notwendige ärztliche Versorgung zu versagen, während immer mehr Amerikaner zum bloßen Überleben auf Kredithaie verschiedenerlei Arten angewiesen waren.  Derweil genossen Konzerne wie z.B. AIG stetig steigende Gewinne infolge der Demontage des regulatorischen Rahmens. Ökonomen zufolge wurden zwischen 1980 und 2005 schätzungsweise 20 Billionen Dollar auf die einkommensstärksten 10% der US-Bevölkerung umverteilt.

Man sollte sich an dieser Stelle daran erinnern, daß das oben Beschriebene keine „Krise“ darstellte, sondern vielmehr das, was man als „Wohlstand“ bezeichnete.

Die „Krise“ begann erst dann, als die Spekulationsblase, die auf „esoterischen Finanzinstrumenten“  mit kaum realer Absicherung, und die kaum ein Marktteilnehmer wirklich verstand, beruhte, platzte, wie eben vorherzusehen war, und dadurch „Rekordverluste“ für diejenigen entstanden, die über ein Jahrzehnt lang „Rekordgewinne“ gefeiert hatten.

Krisenmanagement


Aufgrund der obigen Analyse des Krisenbegriffs der Politik ist die Reaktion der Politik auf die derzeitige Krise leicht vorherzusehen. Die Architekten der Krise (darunter Zeitgenossen wie Lawrence Summers, Robert Rubin, Henry Paulson und Timothy Geithner, die später zu den Oberkrisenmanagern der US-Regierung ernannt wurden) waren sich in der Tat der – mehrfach wiederholten – staatlichen Reaktion auf die Krise so sicher, daß sie sich auf Risiken einließen, die sonst der reinste Selbstmord gewesen wären.

Da die „Krise“ nicht in der Verarmung der Bevölkerung, sondern in den durchaus vorhersehbaren Folgen der (äußerst gewinnträchtigen) Verantwortungslosigkeit des Finanzwesens liegt, darf die staatliche Reaktion darauf keineswegs wundern. Wie vorherzusehen war, besteht die unmittelbare Reaktion darin, den Hauptverantwortlichen der Krise Billionen Dollar bedingungslos, aufsichts- und auflagenfrei in die Taschen zu spritzen. Obwohl diese Bargeldinfusionen in der Öffentlichkeit mit der Ankurbelung der Kreditflüsse begründet werden, sind die Gelder mit keiner entsprechenden Bedingung versehen. Diese Maßnahme, die zwar auf der Börse für Jubel und Gejohle gesorgt hat, hat – man staune! – zu keiner erheblichen Erhöhung der Kreditverfügbarkeit geführt. Die Nutznießer der Rettungszuschüsse haben sich generell geweigert, Rechenschaft über deren Verwendung abzulegen, was ja auch verständlich ist, denn sie sind schließlich nicht dazu verpflichtet. Es ist jedoch inzwischen klar geworden, daß sie im Allgemeinen andere Verwendungszwecke für ihre Steuergeschenke gefunden haben, darunter Boni, Dividenden, Fusionen, Übernahmen und Lobbyarbeit gegen das Employee Free Choice Act, was, falls es verabschiedet wird, einen ersten Schritt zur Wiederherstellung der Koalitionsfreiheit der Werktätigen darstellen würde.

Obwohl sich die Frage geradezu aufdrängt, wie schlecht es diesen Knzern wirklich gehen kann, wenn sie es sich leisten können, ihre Sozialhilfe zu solchen Zwecken auszugeben, konzentrieren Medien wie Politik die Aufmerksamkeit und die Wut der Bevölkerung nach Kräften auf die den Managern ausgezahlten Boni, die einen winzigen Anteil des Gesamtbetrags ausmachen, während das US-Finanzministerium Investoren mit dem Angebot hofiert,  gemeinsam mit Hedgefonds giftige Vermögenswerte aufzukaufen und verspricht, daß der Staat etwaige Verluste auffangen werde. Die Rentabilität der spekulativen „Investment“-Banken, die die Krise erst ausgelöst haben, darf also keinesfalls dem Zufall überlassen werden.

Obwohl man der Ausrichtung des Krisenmanagements leicht einen anderen Eindruck abgewinnen könnte, hat es die Mehrheit der Bevölkerung mit eigenen Problemen zu schaffen, die das Finanzwesen um steigende Obdach- und Arbeitslosigkeit als Dreingabe ergänzt hat. Das soll selbstverständlich nicht heißen, daß das Problem in Washington gänzlich ignoriert wird, wo die Administration Obama doch beabsichtigt, bis zu $75 Milliarden – weniger als die Hälfte der Summe, die AIG allein (bisher!) erhalten hat – um denjenigen Noch-Eigenheimbesitzern abzuhelfen, die der Meinung der Administration nach ihre Eigenheime auf verantwortungsvolle Art gekauft haben. Die Administration bemüht sich ebenfalls, die Vorstände der US-Autokonzerne vor dem Vorruhestand zu bewahren, indem sie die Arbeiter der Autoindustrie – die zu den wenigen US-Werktätigen gehören, die noch eine halbwegs wirksame gewerkschaftliche Vertretung genießen – zwingt, erhebliche Lohn- und Gehaltskürzungen sowie Kürzungen der auf ihren Beiträgen beruhenden Krankenversicherungs- und Rentenleistungen in Kauf zu nehmen.  Schließlich müssen diejenigen, die weiterhin Wohlstand genießen, aus Solidarität mit den Krisenopfern zur Kasse gebeten werden.

Die Hierarchie der Rettungsmaßnahmen ist an sich aufschlußreich. Die für die Krise verantwortlichen Spekulanten bekommen Steuergelder grenzen- und bedingungslos ausgezahlt. Sind die Gelder einmal alle, was bei diesen Empfängern eher schnell geht, gibt es immer mehr. Der Staat bewahrt sie vor all den Risiken, die zu den von ihnen ins Leben gerufenen „giftigen Vermögenswerten“ dazugehören. Allem Anschein nach gibt es nur eine Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieser Zuwendung: Man muß an der Krise mit schuld sein. Brauchen Manager in der Autobranche Hilfe, ist der Staat um einiges weniger entgegenkommend. Die großen Autokonzerne müssen zunächst einmal einen Verwendungsplan für die staatlichen Zuschüsse vorlegen und können bei unangemessener Verwendung zur Verantwortung gezogen werden. Natürlich ist dies eine für die Automanager nicht allzu große Last, den von dem erforderlichen „Erholungsplan“ werden die größten Lasten den Belegschaften (die als einzige wegen der Vergütungs- und  Leistungskürzungen in Kauf nehmen müssen) aufgebürdet. Zwar ist dieses Arrangement nicht halb so günstig wie das den Hauptarchitekten der Krise unterbreitete Angebot, aber so schlecht ist es auch wieder nicht. Mehr als ein Plan für die Zukunft, der das Schlimmste den Arbeitern zumutet, wird nicht verlangt.

Für die Millionen Eigenheimbesitzer, die infolge der betrügerischen Darlehen zwielichtiger Tochtergesellschaften der „seriösen“ Kreditinstitute der Obdachlosigkeit ins Auge sehen, sieht die Situation jedoch nicht so rosig aus. Um ein Stück des ihnen theoretisch zur Verfügung stehenden – weitaus kleineren – Kuchens abzubekommen, müssen Eigenheimbesitzer beweisen – wie das gehen soll, weiß niemand – daß sie beim Kauf ihres Eigenheims verantwortungsbewußt handelten. Es mag zwar etwas merkwürdig wirken, daß nicht den Architekten der Krise, sondern den Hauptopfern der Krise solch eine Bedingung zugemutet wird, es ist jedoch vollkommen logisch: kein Kreditinstitut oder Banker auf Erden könnte der von der Administration Obama den Eigenheimbesitzern auferlegten Voraussetzung genügen. Kann ein Eigenheimbesitzer, dem die Zwangsvollstreckung unmittelbar bevorsteht, den Staat nicht davon überzeugen, daß er in der Vergangenheit verantwortungsbewußt gehandelt hat, hat er als einzigen Ausweg die Möglichkeit, in eine der wachsenden Zeltstädte Amerikas zu ziehen. Selbst der beste Verwendungsplan für Staatliche Zuschüsse genügt hier nicht.

So streng wie die Behandlung der Noch-Eigenheimbesitzer durch den Staat auch wirken mag, darf die restliche Bevölkerung noch weniger Hilfe erwarten. Höchstens wird das Konjunkturpaket der Administration Obama die schlecht bezahlten, gewerkschaftslosen und ganz allgemein beschissenen Jobs , die sie verloren haben, durch neue schlecht bezahlte, gewerkschaftslose und ganz allgemein beschissene Jobs ersetzen. Wenn – wohlgemerkt – man das Glück hat, einen zu finden. Obama hat zwar im Wahlkampf sehr gern über die Verabschiedung des Employee Free Choice Act gesprochen , seine Administration verdeutlicht jedoch nach Kräften, daß EFCA derzeit nicht auf der Tagesordnung stehe. Das heißt: Die gewerkschaftliche Organisation, eine der wenigen Möglichkeiten für Werktätige zur Besserung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen, der Mehrheit der Bevölkerung weiterhin versperrt bleiben wird. Die Millionen (Versicherten wie Unversicherten), die sich unter der Last der Kosten ärztlicher Versorgung der Insolvenz nähern, können sich ebenfalls sicher sein, daß die einzige Reform, die sie fast einstimmig befürworten – eine nationale Gesundheitsvorsorge – „vom Tisch“ ist, wie es ein Sprecher der Administration Obama formuliert hat. Und in unserem Zeitalter von „Milliarde? Billion? Es zählt eh keiner mehr!” ist auch von einem Erlaß der Studiendarlehens- und Verbraucherverschuldung überhaupt keine Rede, obwohl dies die Kaufkraft des Durchschnittsamerikaners deutlich erhöhen und einen wirksamen Konjunkturanstoß auf Nachfragebasis darstellen würde.

Um es in der Sprache unserer Orwellschen Zeiten auszudrücken, werden die meisten Amerikaner weiterhin Wohlstand ohne staatliche Einmischung genießen.

Gehen wir jedoch davon aus, daß die Krise in etwas anderem besteht als einer vorhersehbaren Senkung der Rentabilität einer Industrie, die nichts als Profite für sich selbst schafft, so drängt sich eine ganz andere Krisenmanagement-Strategie auf. Vorrangig müßte dafür gesorgt werden, daß niemand wegen der zu keinerlei Rechenschaft verpflichteten Institutionen, denen die Herrschaft über die Wirtschaft zugebilligt worden ist, obdach- oder erwerbslos wird und daß niemandem derentwegen die Strom-, Gas- oder Wasserversorgung ausgeschaltet wird. In den 1930er Jahren tat dies Franklin D. Roosevelt, indem er per Dekret sämtliche Zwangsvollstreckungen, Räumungen und Strom-, Wasser- und Gasversorgungseinstellungen aussetze. Zweite Priorität hätte eine enorme Untersuchung der Vorgänge, die zu dieser Sauerei geführt haben, darunter die Überprüfung sämtlicher betroffenen Hypotheken und eine intensive Untersuchung der an der Krise beteiligten Institutionen durch die Finanzmarktaufsicht, dies alles Schritte, die die Administrationen Bush und Obama bisher tunlichst vermieden haben. Gleichzeitig könnte der Staat Mehrheitsbeteiligung an den einschlägigen Institutionen erwerben und diese zur Rettung der evtl. vorhandenen tragfähigen und nützlichen Teilbereiche der Institutionen, während alle übrigen Teilbereiche der Insolvenz überantwortet werden (wodurch auch die Bonusfrage ohne größere Schwierigkeiten zu lösen wäreue). Sobald sich die Lage stabilisiert, könnten die tragfähigen Teilbereiche in kleine, kontrollierbare Einheiten zerlegt werden, die auf Gemeindeebene rechenschaftspflichtig wären, und man könnte Vorschriften (wieder-)erlassen, die verhindern würden, daß irgendeine dieser Institute „too big to fail“ wird.

Letzten Endes kommt alles auf die Definition von „Krise“ an.