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Goldstones Rückzieher

(Original: Englisch)

Zunächst wurde es von einigen für einen Aprilscherz der Washington Post gehalten. Richard Goldstone, ehemals Vorsitzender der UNO-Untersuchungsmission zum Gaza-Konflikt, veröffentlichte am 1. April einen Kommentar mit dem Titel Reconsidering the Goldstone Report on Israel and War Crimes (Ein neuer Blick auf den Goldstone-Bericht zu Israel und Kriegsverbrechen). Darin behauptet Goldstone:

Wir wissen heute viel mehr über das, was im Gaza-Krieg 2008-2009, geschah, als wir damals wußten, als ich als Vorsitzender der vom UNO-Menschenrechtsrat einberufenen Untersuchungsmission fungierte, die das inzwischen als Goldstone-Bericht bekannte Dokument herausgab. Hätte ich damals das gewußt, was ich heute weiß, wäre der Goldstone-Bericht ein anderes Dokument geworden.

Der Bericht der UNO-Untersuchungsmission zum Gaza-Konflikt:

Ein kurzer Überblick

 

Bevor wir auf das zurückkommen, was “[Goldstone] heute weiß”, lohnt sich ein schneller Blick auf den Bericht selbst. Bei der Auslegung des vom UNO-Menschenrechtsrat erteilten Auftrags „gelangte die Mission zur Auffassung, daß alle Handlungen aller Beteiligten zu berücksichtigen waren, die möglicherweise Verletzungen der internationalen Menschenrechte bzw. des humanitären Völkerrechts darstellen könnten,“ sowie „damit verbundene Handlungen in den ganzen besetzten palästinensischen Gebieten und Israel.“

Diese Auslegung des Auftrags mag zwar ziemlich weit gefaßt wirken, jedoch fiel nach Auffassung der UNO-Mission folgende fundamentale Rechtsfrage nicht in den Auftragsumfang: Ob Israel zum Zeitpunkt des als „Aktion gegossenes Blei“ bekannten Angriffs irgendein Recht hatte, gegen die besetzten Gebiete, insbesondere den Gaza-Streifen, militärische Gewalt anzuwenden. Diese als ius ad bellum (das Recht, Krieg zu führen) bekannte Frage ist für die sachgemäße Anwendung des humanitären Völkerrechts – ius in bello (Recht im Kriege), die Instrumente wie die Genfer und Haager Abkommen umfaßt -, die festlegt, wie Gewalt in den Situationen angewandt werden darf, in denen die Gewaltanwendung rechtlich zulässig ist. Hat ein Staat kein ius ad bellum, ist jedwede Gewaltanwendung illegal, und zwar selbst dann, wenn sie sich gegen Ziele richtet, die sonst legitime militärische Ziele darstellen würden.

Wie ich und zahlreiche andere – darunter der Völkerrechtsexperte und UNO-Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten Prof. Richard Falk – wiederholt angemerkt haben, hatte Israel rechtlich gesehen kein Recht, gegen die besetzten palästinensischen Gebiete (Occupied Palestinian Territory, OPT), zu denen auch der Gaza-Streifen gehört, Krieg zu führen, da das Völkerrecht die Anwendung bzw. Androhung von Gewalt – vorbehaltlich bestimmter, eng gefaßter Ausnahmen – in den internationalen Beziehungen generell verbietet. Insbesondere muß ein Staat einem laufenden bzw. unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff ins Auge sehen und friedliche Mittel erschöpfen, bzw. den Beweis führen, daß keine friedlichen Mittel zu Gebote stehen, bevor zur Lösung eines Konflikts rechtmäßig auf militärische Gewalt zurückgegriffen werden darf.  Da friedliche Mittel (d.h. den 2008 geschlossenen Waffenstillstand nicht zu verletzten und die angebotene 10-jährige Verlängerung des Waffenstillstandes zu akzeptieren) nicht nur zu Gebote standen, sondern in den Monaten, die dem israelischen Angriff auf Gaza am 4. November 2008 unmittelbar vorausgingen, sogar funktioniert hatten, war jede Gewaltanwendung seitens Israels illegal.

Daß dieser Umstand vom Bericht nicht erwähnt wurde, ist aus verschiedenerlei Gründen bemerkenswert. Erstens wurde die UNO-Charta im Bericht als Teil des bei den Ermittlungen anzuwendenden „normativen Rahmens“ ausdrücklich aufgeführt.   Zum anderen wird vom Bericht mit keinem Wort ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese Kernfrage weggelassen wird bzw. argumentationshalber unterstellt, daß Israel ius ad bellum hätte; vielmehr wurde die Frage vollends ignoriert, und der Bericht geht – auch noch stillschweigend – davon aus, daß Israel tatsächlich das Recht gehabt hatte, Krieg zu führen.

Zwar wurden im Bericht zahlreiche Fragen aufgegriffen, die mit dem „Gegossenes Blei“-Massaker 2008-2009 nicht direkt in Verbindung standen, werden sich die folgenden Ausführungen auf die Behandlung der israelischen Handlungen gegen die Gazaer Bevölkerung während „Gegossenes Blei“ beschränken, da dies einziger Gegenstand von Goldstones „neuem Blick“ ist.

Insgesamt untersuchte der Bericht 36 Vorfälle, die sich innerhalb Gazas ereignet hatten (Abs. 16). Zu diesen gehören israelische Angriffe auf die zivile Regierungsinfrastruktur (darunter der Palästinensische Legislativrat, mehrere Polizeidienststellen, das Hauptgefängnis Gazas), von denen die israelischen Behörden frei zugaben, daß sie vorsätzlich angegriffen worden waren (Abs. 32, 34), die nach Auffassung der UNO-Mission die „Zerstörung von Gut, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt ist und in grossem Ausmass auf unerlaubte und willkürliche Weise vorgenommen wird.“ (Abs. 32), ein Kriegsverbrechen, darstellte. Zu den anderen Vorfällen gehörten Angriffe – die auch zugegebenermaßen vorsätzlich verübt wurden – auf Krankenhäuser und UNO-Einrichtungen, die durch Behauptungen gerechtfertigt wurden, die seien von palästinensischen Kämpfern als militärische Positionen verwandt worden. Für diese Behauptung fand die Mission keinerlei Beweise.

Was die Verpflichtung Israels betrifft, „praktisch mögliche Vorkehrungen“ zum Schutze der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu treffen, merkte die Mission an, daß den vielgepriesenen Warnungen und telefonischen Nachrichten an Zivilpersonen in anzugreifenden Gegenden die Glaubwürdigkeit und Bestimmtheit fehlten, und führte z.B. aus: „die Glaubwürdigkeit der Anweisungen, sich zur Sicherheit in die Stadtmitte zu begeben, wurde ebenfalls dadurch gemindert, daß die Stadtmitten während der Luftphase der Militäraktion selbst Gegenstand intensiver Angriffe geworden waren“ (Abs. 37), und daß die Verwendung von Lufbombardements durch Israel als „Warnung“ („Dachklopfen“) eigentlich „einen Angriff gegen die im Gebäude befindlichen Zivilpersonen“ darstellt (Abs. 37). Auch dieser Angriff auf Zivilpersonen und zivile Objekte, dies gaben die israelischen Behörden offen zu, war vorsätzlich.

In der Tat geht aus dem Bericht eindeutig hervor, daß die verwerflichsten israelischen Angriffe auf Gaza, das Bombardement einer UNO-Außenstelle und Kraftstoffdepot, in der Zivilpersonen Schutz suchten, sowie zweier Krankenhäuser, mit weißem Phosphor, von Israel als vorsätzliche Angriffe anerkannt wurden.

Goldstone kaschiert Israels zugegebenermaßen vorsätzliche Taten

 

Vor diesem Hintergrund ist Goldstones in der Washington Post öffentlich verkündeter „neuer Blick“ – auf der Grundlage dessen, was er „heute weiß“ – zu betrachten. Kern dieses „neuen Blicks“ sind „Vorwürfe vorsätzlichen Tuns durch Israel“ (gemeint sind offenbar „vorsätzliches Tun durch Israel“ und nicht „Behauptungen Israels, gewisse Handlungen seien vorsätzlich begangen“).  „Daß die von der Hamas angeblich begangenen Verbrechen vorsätzlich waren“, beginnt er, „versteht sich von selbst“. Die Feststellung, daß Israels Verbrechen vorsätzlich begangen worden waren, „basierten“ hingegen „auf zivilen Todesfällen und Verletzten in Situationen, in denen unserer Untersuchungsmission keinerlei Beweise vorlagen, die eine sonstige sachgemäße Schlußfolgerung rechtfertigen könnten.“

Letztere Behauptung ist, wie oben bereits ausgeführt, wahr im technischen Sinne, aber zugleich verlogen, da damit der Eindruck geweckt wird, man sei nicht aufgrund positiver Feststellungen, sondern aus Mangel an Gegenbeweisen, zum Schluß gekommen, Israel habe vorsätzlich gehandelt. Dabei basierten die Feststellungen im Bericht, daß einige der niederträchtigsten Verbrechen Israels vorsätzlich begangen worden seien, darauf, daß Israel selbst den Vorsatz anerkannte. Wenn man die Hamas nach dem gleichen Maß messen würde, nach Goldstone Israel hier mißt, gäbe es Grund zu zweifeln, daß „die von der Hamas angeblich begangenen Verbrechen vorsätzlich waren“, da es zu „zivilen Todesfällen und Verletzten“ äußerst selten gekommen war in einem Zusammenhang, in dem man zu dem ebenso angemessenen Schluß kommen könnte, die Hamas hätte (womöglich zur Förderung der Landwirtschaft) harmlose Löcher in den Boden sprengen wollen.

Amtliche Politik:
Israels „Dahiya-Strategie“

 

Obwohl er einräumt, „die zu einigen von uns untersuchten Vorfällen“ sei bestätigt worden durch „Untersuchungen, die vom israelischen Militär veröffentlicht und im [endgültigen UNO-Bericht] anerkannt wurden“, will er uns nicht sagen, um welche Vorfälle es eigentlich handelt, nur, daß „einzelne Soldaten“ daran beteiligt gewesen seien. Er fügt jedoch hinzu, daß diese Untersuchungen „auch darauf hindeuten, daß Zivilpersonen nicht aufgrund amtlicher Politik vorsätzlich angegriffen wurden“.

Das Schöne daran, für ein Publikum zu schreiben, der das Dokument wahrscheinlich nicht kennt, über das man schreibt, ist, daß man sich gewisse Freiheiten erlauben kann. Wer den Bericht nicht gelesen hat, dem wird z.B. nicht sofort aufffallen, daß Goldstone zalreiche schwere Fälle – die oben zusammengefaßten Angriffe auf zivile Wohnhäuser, Zivilpersonen und die zivile Infrastruktur – weggelassen hat, in denen Israel aus freien Stücken zugab, vorsätzlich gehandelt zu haben.

Und wie sollen wir seine Behauptung verstehen, Zivilpersonen würden „nicht aufgrund amtlicher Politik vorsätzlich angegriffen“? Was die oben geschilderten Vorfälle betrifft, ist dies offenkundig falsch – israelische Behörden gaben öffentlich zu, daß diese Angriffe vorsätzlich waren, und auf der amtlichen Politik berührten, die „terroristische Infrastruktur“ der gewählten Hamas-Regierung zu vernichten.  Hier will sich Goldstone offenbar den maximalen Spielraum gönnen – war ein Angriff auf Zivilpersonen vorsätzlich, kann er behaupten, es handele sich um die Tat verwirrter Einzeltäter, „einzelner Soldaten“, und nicht um „amtliche Politik“.  Auf diese Behauptungen sollen wir jedoch offensichtlich nicht näher eingehen; Goldstone tut es jedenfalls nicht.

Im Bericht wird eine weitere „amtliche Politik“ erwähnt, um die Goldstones Kommentar einen Bogen macht: Israels „Dahiya-Doktrin“ Wie im Bericht ausgeführt wird, geht es bei diesem 2006 während des Kriegs gegen den Libanon entstandenen Konzept um „die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt und die Verursachung umfangreicher Schäden und Vernichtung an zivilem Besitz und ziviler Infrastruktur, sowie schweren Leides für die Zivilbevölkerung“ (Abs. 62). Näher darauf eingegangen wird von einem im Juni 2008 von Jaron London veröffentlichten Jediot-Acharonot-Artikel mit folgendem Untertitel: „Israel dämmert endlich, daß Araber für die Taten ihrer Führer zur Verantwortung gezogen werden müssen“

In einem Interview am Freitag mit Jediot Acharonot gab es vom Befehlshaber des Kommandos Nord der israelischen Streitkräfte Gadi Eisenkot klare Worte, die im Grunde genommen auf folgendes hinauslaufen: Im nächsten Zusammenstoß mit der Hisbollah werden wir uns keine Mühe geben, Tausende Raketenwerfer aufzuspüren, und wir werden das Blut unserer Soldaten bei Versuchen, befestigte Hisbollah-Positionen einzunehmen, nicht vergießen. Vielmehr werden wir den Libanon vernichten, und werden uns dabei von den Protesten der „Welt“ nicht beirren lassen.

Die 160 schiitischen Dörfer, die sich in schiitische Armeestützpunkte verwandelt haben, werden wir zerstampfen, und wir werden gnadenlos vorgehen, wenn es darum geht, die nationale Infrastruktur eines Staates anzugreifen, der praktisch der Herrschaft der Hisbollah unterliegt.

Mit andern Worten haben die israelischen Streitkräfte nach der israelischen Dahiya-Strategie zwischen Zivilpersonen und Kombattanten nicht zu unterschieden. Vielmehr besteht die Strategie Israels gemäß der Dahiya-Doktrin darin, im Zusammenhang eines breitangelegten Angriffs auf die Zivilbevölkerung Zivilpersonen und ziviele Objekte in großem Umfang zu vernichten.  Damit wird der Vorsatz, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, eindeutig bekundet. Wie General Eisenkot in seinem Jediot-Interview bemerkte: „Hierbei handelt es sich nicht um eine Empfehlung. Dies ist ein Plan. Und er ist genehmigt worden.“ (Hervorhebungen von mir). Nach dem Massaker merkte der Goldstone-Bericht an, „aus einer Würdigung der unmittelbar in Augenschein genommenen Fakten geht hervor, daß [die Dahiya-Strategie] dem entspricht, was auch tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde“ (Abs. 62).

Israel untersucht sich selber und Goldstone klatscht Beifall dazu

Goldstone unternimmt keinen Versuch, die – sogar in einer der führenden Zeitungen Israels – eindeutig verkündeten Pläne der israelischen Militärführung, gezielte Anschläge auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur zu verüben, mit seinen Zweifeln über die „Vorwürfe vorsätzlichen Tuns“ in Einklang zu bringen. Einen Hinweis liefert er jedoch: Sein „neuer Blick“ auf die Frage, ob Israels Angriffe auf Gazaer Zivilpersonen vorsätzlich verübt wurden, beruht offenbar größtenteils auf dem Umstand, daß Israel „Untersuchungen“ durchgeführt hat. Diese „Untersuchungen“ durch Israel stellt er der Hamas gegenüber, diee ihm zufolge „nichts unternommen hat“, um die Feststellungen im Bericht über Kriegsverbrechen palästinensischer Kämpfer innerhalb Gazas zu untersuchen.   Lassen wir den Umstand beiseite, daß Israel diese „Untersuchungen“ erst nach der öffentlichen Anprangerung im Bericht eingeleitet hat. Wieder einmal erfahren wir im Bericht selbst, was von den „Untersuchungen“ zu halten ist, die Goldstone heute lobt.

Im Abschnitt über Mechanismen der Verantwortlichkeit lieferte der Bericht eine ausführliche Analyse „des internen israelische Untersuchungs- und Strafverfolgungssystems sowohl auf der Grundlage der nationalen Gesetzgebung als auch in der tatsächlichen Praxis“ (Abs. 120) sowie der allgemeinen Kultur der Straffreiheit, die dieses System durchdringt, wenn es um Verbrechen an Palästinensern geht.  Kern dieses Systems ist die sog. Einsatznachbesprechung, in denen „Vorfälle oder Aktionen“ von „von Soldaten derselben Einheit oder derselben Befehlskette zusammen mit einem vorgesetzten Offizier durchgesprochen.  Sie sollen operativen Zwecken dienen” (Abs. 20).  Es lohnt sich, die Feststellungen des Berichts über die israelischen Verantwortlichkeitsmechanismen – bzw. deren Nichtvorhandensein – länger zu zitieren:

121. […] An Untersuchungen [über schwere Rechtsverletzungen] stellen die Normen des Völkerrechts auch bestimmte Mindestanforderungen in Bezug auf Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Rechtzeitigkeit und Wirksamkeit. Die Mission ist der Ansicht, daß das israelische Untersuchungssystem nicht allen dieser Prinzipien Genüge tut. Bezüglich der „Einsatznachbesprechung“, die die israelischen Streitkräfte als Untersuchungsmechanismus einsetzt, vertritt die Kommission die Auffassung, daß ein Instrument, das eingesetzt wird, um Leistungen zu beurteilen und Lehren für die Zukunft zu ziehen, wohl kaum als der nach jedem Einsatz, bei dem es zu Vorwürfe über schwere Rechtsverletzungen gekommen ist, einzuleitende wirksame, unparteiische Untersuchungsmechanismus gelten kann. Auch genügt es nicht den international anerkannten Prinzipien der Unparteilichkeit und Rechtzeitigkeit von Ermittlungen. Dass eigentliche strafrechtliche Ermittlungen erst nach dem Abschluss der „Einsatznachbesprechung“ eingeleitet werden können stellt ein gravierendes Manko des israelischen Untersuchungssystems dar.

122. Die Mission kommt zu dem Schluss, dass schwerwiegende Zweifel an Israels Bereitschaft bestehen, seriöse Untersuchungen unparteiisch, unabhängig und wirksam durchzuführen, wie es das Völkerrecht vorschreibt. Die Nission ist auch der Ansicht, daß dem israelischen System insgesamt diskriminierende Aspekte innewohnen, die es palästinensischen Geschädigten sehr schwer macht, zu ihrem Recht zu kommen.

[…]

1399. In Vergangenheit wurde in jedem Fall, in dem ein an den Feindseligkeiten nicht beteiligter Palästinenser getötet wurde, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Diese Politik wurde 2000 geändert. Jetzt sind strafrechtliche Ermittlungen die Ausnahme. Diese Fälle werden jetzt lediglich von den Streitkräften selbst in einer „Einsatznachbesprechung“ besprochen. 2003 beantragten die Association for Civil Rights in Israel und B’Tselem, diesen Politikwechsel rückgängig zu machen, und forderten die Einleitung eines ein unabhängigen Ermittlungsverfahrens für jeden zivilen Todesfall.  Im Antrag wurden u.a. die Einleitung von Ermittlungsverfahren in einzelnen Todesfällen begehrt und die Frage der Gesamtpolitik aufgeworfen. Erstere wurden abgelehnt; die Frage der Gesamtpolitik ist noch anhängig.

1400. [Die israelische Menschenrechtsorganisation] Yesh Din berichtet, daß mehr als 90 Prozent der Ermittlungsverfahren abgeschlossen werden, ohne daß „die öffentliche Klage erhoben“ wird.  B’Tselem berichtete im Juni 2009, daß die Anklage gegen Herrn Braude, den Hebroner Siedler, der im Dezember 2009 dabei gefilmt wurde, drei Palästinenser zu beschießen und zu verletzen, nicht weiterverfolgt werde, da das Gericht die Vorlage „geheimer Beweismittel“ gegen ihn  angeordnet hatte und die aus der Vorlage dieser Beweise erwachsende potentielle Gefahr für die Öffentlichkeit schwerer wiege als in der Entlassung einer bei der Begehung eines Gewaltverbrechens gefilmten Person läge.

1401. Im Juli 2009 wurde einem israelischen Aktivisten, dem der israelische Grenzzschutz in den Kopf geschossen hatte, in einem außergerichtlichen Vergleich Schadensersatz zugesprochen. Bis dato ist gegen den Kommandanten, der den Schußbefehl erteilt hatte, kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

1402. Am 7. Juli 2008 wurde auf den verblendeten und in Handschellen gelegten Ashraf Abu-Rahma aus nächster Nähe geschossen. Der Vorfall wurde gefilmt und im Fernsehen breit veröffentlicht. Als die israelische Militärstaatsanwaltschaft dem Offizier, der den Schußbefehl erteilt hatte, „unwürdiges Verhalten“ zur Last legte, führte der israelische Professor für Völkerrecht Oma Ben-Naftali aus: „Die Entscheidung (wies) auf eine Politik der Toleranz gegenüber Gewalt gegen gewaltfreie zivile Protestaktionen gegen die Errichtung der Trennmauer hin.“ Desweiteren führte er aus, „Eine solche Politik hat zweierlei Auswirkungen:   Erstens könnte dadurch  „unwürdiges Verhalten“ – was rechtlich gesehen ein Kriegsverbrechen darstellt – in ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwandelt werden; zweitens könnte es als Einladung an die internationale Gemeinschaft gedeutet werden, durch die Ausübung der universalen Zuständigkeit einzugreifen.

(Hervorhebungen von mir)

Mit wenigen Worten heißt das, daß aufgrund der langen Geschichte der Straffreiheit selbst bei gut dokumentierten Verbrechen gegen Palästinenser und andere, die sich gegen die israelische Besatzung engagieren, die israelischen „Untersuchungen“, die Goldstone für ein so positives Zeichen hält, in etwa so glaubwürdig sind wie Moshe Katsav auf einer Demo gegen Gewalt gegen Frauen.

Die Verharmlosung des Massakers an der Familie al-Samouni

Als Beispiel der israelischen „Untersuchungen“ erwähnt Goldstone das, was er für den „schwersten im Goldstone-Bericht untersuchten Angriff“ hält, und zwar die Tötung von 29 Angehörigen der Familie al-Samouni (deren Namen Goldstone falsch schreibt) in ihrem Haus. „Die Beschießung des Hauses,“ behauptet Goldstone, ohne Beweise anzuführen, „war allem Anschein nach Folge der Mißdeutung eines Drohnenbildes durch einen israelischen Kommandanten.“ Es ist nun mal nicht leicht, einen einzelnen Angriff als „schwersten“ Angriff eines vier Wochen andauernden Massakers, in dem es auch zum Einsatz chemischer Waffen gegen Krankenhäuser und UNO-Einrichtungen, in denen Zivilpersonen Schutz suchten, einem Amoklauf in einer Hühnerfarm, bei der der Hof zerstört und Tausende Hühner getötet wurden, und zur Vernichtung der einzigen Binnenquelle Gazas für Baubeton kam, aber die Abschlachtung der Familie al-Samouni dürfte in der engeren Wahl auf keinen Fall fehlen.

Die Tötungen der Angehörigen der Familie al-Samouni, die wir nunmehr für die Folge eines mißdeuteten Drohnenbildes halten sollen, wurden im Bericht ausführlich besprochen. Die Zerstörung der al-Samouni-Gegend, in der die Familie al-Samouni wohnt, war dermaßen umfangreich, daß die UNO-Mission zum Zeitpunkt ihres Besuchs im Juni 2009 „nur noch vereinzelte Gebäude und wenige Zelte, inmitten vom Schutt von Häuserruinen und von Planierraupen platt gemachtem Ackerland“ vorfand (Abs. 705).  Zu den ersten getöteten Angehörigen der Familie al-Samouni gehörte Ateya al-Samouni, dessen Haus von israelischen Soldaten gewaltsam betreten wurde, die dabei „eine Art Sprengsatz“ warfen.  „Inmitten des Rauchs, des Feuers und des Lärms“ heißt es weiter,

trat Ateya al-Samouni mit gehobenen Armen vor und erklärte, dass er Eigentümer des Hauses sei. Die Soldaten erschossen ihn noch, als er seinen Ausweis und einen israelischen Führerschein in den Händen hielt. Dann eröffneten die Soldaten das Feuer im Zimmer, in dem sich alle etwa 20 Familienmitglieder versammelt hatten. Mehrere wurden verletzt; besonders schwere Verletzungen erlitt Ahmad, ein 4-jähriger Junge. Soldaten mit Nachtsichtgeräten betraten das Zimmer und inspizierten alle Anwesenden gründlich.  Die Soldaten zogen dann ins nächste Zimmer und steckten es in Brand. Der Rauch aus diesem Zimmer begann bald, die Familie zu ersticken. Ein Zeuge, der mit der Kommission sprach, erinnerte sich daran, dass ein „weißes Zeugs“ seinem 17-monatigen Neffen aus dem Mund kommen sah und ihm beim Atmen half.

708. Gegen 6.30 Uhr befahlen die Soldaten der Familie, das Haus zu verlassen. Sie mußten Ateyas Leiche zurücklassen, trugen aber Ahmad, der noch atmete. Die Familie versuchte, in das Haus eines Onkels nebenan hineinzugehen, dies erlaubten die Soldaten ihnen jedoch nicht. Die Soldaten befahlen ihnen, in die Straße zu gehen und die Gegend zu verlassen, ein paar Meter weiter wurden sie jedoch von einer anderen Gruppe Soldaten angehalten, die ihnen befahl, sich ganz auszuziehen. Faraj al-Samouni, der den schwer verletzten Ahmad trug, flehte sie an, die Verletzten nach Gaza bringen zu dürfen. Die Soldaten sollen mit Beschimpfungen geantwortet haben. Sie sagten ebenfalls „Ihr seid schlechte Araber.” „Ihr geht nach Nitzarim“.

709. Faraj al-Samouni, dessen Mutter und die anderen betraten das Haus eines Onkels in der Gegend. Von dort aus riefen sie das PRCS. Wie weiter unten geschildert wird, gelang es gegen 16.00 Uhr einem PRCS-Krankenwagen, in die Nähe des Hauses, in dem Ahmad verwundet lag, zu gelangen, wurde jedoch von den israelischen Streitkräften daran gehindert, ihn zu retten. Ahmad verstarb gegen 2.00 Uhr in der Nacht des 4. auf den 5. Januar. Am folgenden Morgen entschlossen sich die im Hause Anwesenden etwa 45 Personen, wegzugehen. Sie machten sich weiße Flaggen und gingen in Richtung Salah ad-Din-Straße. Eine Gruppe Soldaten in der Straße befahl ihnen, ins Haus zurückzugehen, der Zeuge sagt jedoch, sie wären in Richtung Gaza weitergelaufen. Die Soldaten schossen auf ihre Füße, ohne jedoch irgendjemanden zu verletzten. Zwei Kilometer weiter im Norden in der Salah ad-Din-Straße fanden sie Krankenwagen, die die Verletzten nach Gaza ins al-Shifa-Krankenhaus verbrachten.

[…] Bei Saleh al-Samouni klopften die israelischen Soldaten an die Haustür und befahlen den Leuten im Haus,  sie zu öffnen. Die Personen traten einer nach dem anderen heraus und Salehs Vater  stellte den Soldaten auf Hebräisch alle  Familienmitglieder vor. Nach Angaben von Saleh al-Samouni baten sie darum, nach Gaza-Stadt gehen zu dürfen, aber die Soldaten lehnten dies ab und befahlen ihnen stattdessen, zu Wa’el al-Samounis Haus auf der anderen Seite der Straße zu gehen.

711. Die israelischen Soldaten befahlen auch den Bewohnern anderer Häuser sich zu Wa’el al-Samounis Haus zu begeben. Folglich versammelten sich am 4. Januar mittags ungefähr hundert Mitglieder der Großfamilie al-Samouni, in ihrer Mehrheit Frauen und Kinder, in diesem Haus. Es gab kaum Wasser und keine Milch für die Säuglinge. 17.00 Uhr am 4. Januar, ging eine der Frauen heraus, um Brennholz zu holen. Es gab etwas Mehl im Haus und sie bereitete Brot zu, ein Stück für jeden Anwesenden.

712. Am Morgen des 5. Januar 2009, zwischen 6.30 und 7.00 Uhr, verließen Wa’el al-Samouni, Saleh al-Samouni, Hamdi Maher al-Samouni, Muhammad Ibrahim al-Samouni und Iyad al-Samouni das Haus, um Brennholz zu sammeln. Rashad Helmi al-Samouni blieb in der Nähe der Haustür stehen. Saleh al-Samouni machte die Mission darauf aufmerksam, dass die israelischen Soldaten von den Dächern der Häuser aus, wo sie Stellung bezogen hatten,  eine klare Sicht auf die Männer hatten. Plötzlich schlug ein Geschoß neben den fünf Männern in der Nähe des Tors zu Wa’els Haus ein und tötete Muhammad Ibrahmim al-Samouni und wahrscheinlich auch Hamdi Maher al-Samouni. Den anderen Männern gelang es, wieder in das Innere des Hauses zu flüchten. Innerhalb von ca.  fünf Minuten, hatten zwei oder drei weitere Geschosse das Haus direkt getroffen. Bei den öffentlichen Anhörungen berichteten Saleh und Wa’el al-Samouni,  dass diese Raketen von Apache–Hubschraubern aus abgeschossen worden seien. Die eingesetzte Munitionsart konnte die Kommission nicht  bestimmen.

713. Saleh al-Samouni sagte aus, dass beim Angriff auf Wa’el al-Samounis Haus insgesamt 21 Familienmitglieder getötet und 19 verletzt worden seien. Unter den Toten waren Saleh al-Samounis Vater, Talal Helmi al-Samouni, seine Mutter Rahma Muhammad al-Samouni und seine zweijährige Tochter Azza. Drei seiner Söhne im Alter von fünf, drei und knapp einem Jahr (Mahmoud, Omar und Ahmad) wurden verletzt, überlebten jedoch. Von Wa’els nächsten Angehörigen wurden eine Tochter und ein Sohn (Rezqa, 14 und Fares, 12) getötet, während zwei kleinere Kinder (Abdullah und Muhammad) verletzt wurden. Die Photographien aller Toten wurden der Mission im Haus der Familie al-Samouni vorgelegt und während der öffentlichen Anhörung in Gaza ausgestellt.

714. Nach dem Beschuß des Hauses von Wa’el al-Samouni entschlossen sich die meisten derjenigen, die noch im Haus waren, sofort aufzubrechen und nach Gaza-Stadt zu laufen, wobei sie die Toten und einige der Verwundeten zurücklassen mußten. Die Frauen machten Zeichen mit ihren Tüchern. Die Soldaten hingegen erteilten den al-Samounis den Befehl, ins Haus zurückzukehren. Als Familienmitglieder erwiderten, dass unter ihnen viele Verletzte seien, antworteten die Soldaten nach Angaben von Saleh al-Samouni, „Geht zurück zum Tod”. Sie entschlossen sich, dieser Anweisung keine Folge zu leisten, und liefen stattdessen Richtung Gaza-Stadt. Sobald sie in Gaza waren, gingen sie zum PRCS und informierten es über die Verwundeten, die zurückgeblieben waren.

715. Das PRCS unternahm am 4. Januar 2009 gegen 16.00 Uhr, nachdem sie den Notruf der Familie von Ateya al-Samouni erhalten hatten, den ersten Versuch, die Verwundeten aus dem Bezirk al-Samouni zu evakuieren. Das PRCS hatte das IKRK angerufen mit der Bitte,  die Begehung des Gebietes mit den israelischen Streitkräften zu koordinieren. Einem PRCS–Krankenwagen aus dem al-Quds-Krankenhaus gelang es, den Bezirk al-Samouni zu erreichen. Der Krankenhaus war von der Salah ad-Din-Straße nach Westen gefahren, als bei einem der ersten Häuser des Bezirks israelische Soldaten, die am Boden und auf dem Dach eines der Häuser Stellung bezogen hatten,  ihre Gewehre auf ihn richteten und ihn zum Anhalten aufforderten. Der Fahrer und die Krankenschwester erhielten den Befehl, das Auto zu verlassen, ihre Hände zu heben, ihre Kleider auszuziehen und sich auf den Boden zu legen. Anschließend durchsuchten israelische Soldaten sie und den Wagen ungefähr 5 bis 10 Minuten lang. Nachdem sie nichts gefunden hatten, erteilten die Soldaten dem Personal des Krankenwagens den Befehl, nach Gaza-Stadt zurückzukehren, trotz seiner Bitten,  einige Verwundeten bergen zu dürfen. Bei seiner Befragung durch die Mission erinnerte sich der Fahrer des Krankenwagens daran, Frauen und Kinder gesehen zu haben, die unter den Treppen eines Hauses kauerten, die er jedoch nicht mitnehmen durfte.

716. Als die ersten Evakuierten der Familie al-Samouni am 5. Januar 2009  in Gaza-Stadt ankamen, ersuchten PRCS und IKRK die israelischen Streitkräften, in den Bezirk al-Samouni fahren und die Verwundeten evakuieren zu dürfen. Diese Gesuche wurden abgelehnt. Trotz mangelnder Koordination mit den israelischen Streitkräften fuhren am 6. Januar gegen 18.45 Uhr ein IKRK-Wagen und vier PRCS-Krankenwagen in den Bezirk al-Samouni;  es wurde ihnen aber nicht erlaubt, das Gebiet zu betreten und die Verwundeten zu evakuieren.

717. Erst am 7. Januar 2009 erlaubten die israelischen Streitkräftedem IKRK und dem PRCS, während einer „vorübergehenden Feuerpause“, die am gleichen Tag von 13.00 bis 16.00 Uhr ausgerufen  worden war, in den Bezirk al-Samouni zu fahren. Drei PRCS-Krankenwagen, ein IKRK-Wagen und ein weiteres Auto, das zum Transport von Leichen eingesetzt wurde, fuhren die Salah ad-Din-Straße von Gaza-Stadt hinunter bis 1,5 km nördlich des Bezirks al-Samouni, wo sie die Straße von Sandhügeln versperrt vorfanden. Das IKRK versuchte, sich über die Öffnung der Straße mit den israelischen Streitkräften zu verständigen, diese lehnten dies aber ab und forderten das Krankenwagenpersonal auf, die restlichen 1,5 Km zu Fuß zu gehen.

718. Sobald sie im Bezirk al-Samouni angekommen waren, suchten sie in den Häusern nach Überlebenden.  Ein Krankenwagenfahrer, der Mitglied des Teams war, berichtete der Kommission, in Wa’el al-Samounis Haus 15 Leichen und 2 schwerverletzte Kinder gefunden zu haben. Eines der Kinder hatte eine tiefe Wunde in der Schulter, die infiziert war und einen fauligen Geruch verströmte. Die Kinder waren dehydriert und hatten Angst vor dem PRCS-Mitarbeiter. In einem Haus in der Nähe fanden sie in einem Raum 11 Menschen, darunter eine tote Frau.

719. Das Rettungsteams hatten lediglich drei Stunden Zeit, um die gesamte Operation durchzuführen; die Evakuierten waren körperlich schwach und emotional sehr instabil. Die Straße war durch den Einschlag von Granaten und die Bewegungen der israelischen Streitkräfte mit ihren Panzern und Planierraupen beschädigt worden. Die Retter legten alle Alten auf eine Karre und zogen diese selbst 1,5 Kilometer bis zu dem Ort, an dem man sie zum Verlassen der Krankenwagen gezwungen hatte. Die Leichen auf der Straße und unter den Trümmern, darunter Frauen und Kinder, ebenso wie die Toten, die in den Häusern gefunden worden waren, mußten zurückgelassen werden. Auf dem Weg zurück zu den Wagen, betraten PRCS–Mitarbeiter ein Haus, in dem sie einen Mann mit zwei gebrochenen Beinen fanden. Während sie den Mann aus dem Haus trugen, begannen die israelischen Streitkräften damit, das Haus unter Beschuß zu nehmen, vermutlich als Warnung, dass die dreistündige „vorübergehende Feuerpause“ sich ihrem Ende näherte. Das PRCS konnte erst wieder am 18. Januar in das Gebiet zurückkehren.

720. Am 18. Januar 2009 , konnten Mitglieder der Familie al-Samouni endlich wieder in ihr Wohngebiet zurückkehren. Wa’el al-Samounis Haus fanden sie, wie die meisten Häuser der Nachbarschaft und die kleine Moschee, demoliert vor. Die israelischen Streitkräften hatten das Gebäude über den Leichen der während des Angriffs Gestorbenen zerstört. Photographien, die am 18. Januar gemacht wurden, zeigen aus den Trümmern dem Sand herausragende Füße und Beine, sowie die Retter, die die Leichen von Frauen, Männern und Kindern herauszogen. Ein Zeuge schilderte der Mission, wie Familienmitglieder die Leichen auf Pferdekarren wegschafften, wie ein junger Mann im Schockzustand neben den Ruinen seines Hauses saß, und vor allem den alles durchdringenden Gestank des Todes.

[…]

727. Hinsichtlich des Angriffs auf die fünf Männer, die das Haus von Wa’el al-Samouni verlassen hatten, um am frühen Morgen des 5. Januar 2009 Brennholz zu holen, sowie wie des nachfolgenden Beschusses des Hauses, stellt die Mission fest, dass die Mitglieder der anderen Familien, die von den israelischen Streitkräften in Wa’el al-Samounis Haus verbracht worden waren, nach Angaben von Saleh al-Samouni von den israelischen Soldaten durchsucht wurden. Alles deutet darauf hin, dass die israelischen Streitkräfte Kenntnis davon hatten, dass sich ungefähr hundert Zivilpersonen im Haus aufhielten. In der Tat hatten die Familien zuvor darum ersucht, das Gebiet verlassen zu dürfen, um sich an einen sichereren Ort zu begeben, aber man hat ihnen befohlen, im Haus von Wa’el al-Samouni zu bleiben. Dieses Haus befand sich unter ständiger Beobachtung durch israelische Soldaten, die zu diesem Zeitpunkt die volle Kontrolle über das Gebiet hatten.

[…]

729. Die Mission merkt an, dass die israelischen Streitkräfte vier Tage später abstritten, dass ein Angriff auf das Haus von Wa’el al-Samouni stattgefunden hatte. Am 9. Januar 2009 soll israelischer Armeesprecher Jacob Dallal der Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt haben, “die IDF hat Menschen nicht in irgendein bestimmtes Gebäude gedrängt…. Darüber hinaus haben wir den Waffengebrauch der IDF am 5. Januar überprüft. Die IDF hat am 5. Januar kein Gebäude in oder in der Nähe von Zeitun unter Beschuß genommen.” Der Kommission ist keine spätere Verlautbarung der israelischen Regierung bekannt, die dieser kategorischen Leugnung widersprochen hätte, oder die darauf hingewiesen hätte, dass die Behauptungen weiter untersucht worden wären.

735. Am Morgen des 5. Januar 2009, nach dem Beschuß von Wa’el al-Samounis Haus flüchteten zwei Überlebende ins Haus von Asaad al-Samouni. Auf Grund der vorliegenden Aussagenkann die Kommission nicht feststellen, ob die israelischen Soldaten den Mitgliedern der Familie al-Samouni den Befehl erteilten das Haus zu verlassen und nach Gaza-Stadt zu laufen oder ob es die Familien selbst waren, die um die Erlaubnis baten, wegzugehen, nachdem sie die erschreckenden Neuigkeiten darüber, was ihren Verwandten in Wa’el al-Samounis Haus widerfahren war, erfahren hatten. Auf jeden Fall machten sich die Personen, die sich im Haus von Asaad al-Samouni versammelt hatten, auf den Weg, verließen das Haus und gingen die al-Samouni-Straße entlang, um auf der Salah ad-Din-Straße–Straße in Richtung Gaza-Stadt zu laufen. Die Soldaten hatten sie angewiesen, direkt nach Gaza zu laufen ohne anzuhalten oder Umwege zu machen. Die Männer trugen noch immer Handschellen und die Soldaten erzählten ihnen, dass man sie erschießen würde, wenn sie versuchten, die Handschellen zu entfernen.

736. Auf der Salah ad-Din-Straße, einige Meter nördlich von der al-Samouni-Straße und vor dem Haus der Familie Juha, eröffnete ein einzelner oder mehrere der israelischen Soldaten, die auf den Dächern der Häuser Stellung bezogen hatten, das Feuer. Iyad wurde ins Bein getroffen und fiel zu Boden. Muhammad Asaad al-Samouni, der unmittelbar hinter ihm lief, machte Anstalten, ihm zu helfen, aber ein israelischer Soldat auf einem Dach befahl ihm weiterzugehen. Als er den roten Punkt des Laserrichtstrahls auf seinem Körper sah und begriffen hatte, dass der israelische Soldat ihn ins Visier genommen hatte, gab er seinen Hilfeversuch auf. Der israelische Soldat feuerte Warnschüsse auf Muhammad Asaad al-Samounis Vater, um ihn daran zu hindern, Iyad zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Iyad al-Samounis Frau und Kinder wurden durch weitere Warnschüsse daran gehindert,  ihm zu Hilfe zu kommen. Fawzi Arafat, der in einer anderen Gruppe lief auf dem Weg vom Bezirk al-Samouni nach Gaza-Stadt, berichtete der Kommission, gesehen zu haben, wie Iyad al-Samouni am Boden liege, die Hände mit weißen Plastikhandschellen gefesselt, während Blut aus der Wunde an seinem Bein geschossen, und er um Hilfe gebettelt habe. Fawzi al-Samouni sagte aus, dass er zu einem israelischen Soldaten geschrien habe: “Wir wollen den Verletzten bergen.” Der Soldat jedoch richtete sein Gewehr auf Iyads Frau und seine Kinder und befahl ihnen, ohne ihn weiterzugehen.

[…]

741. Obwohl die Möglichkeit besteht, dass die Schüsse auf Iyad al-Samouni ihn nicht töten, sondern lediglich kampfunfähig machen sollten,  indem sie seine Angehörigen und Freunde mit der Erschießung drohten, haben die israelischen Streitkräfte dafür gesorgt, dass er keine lebensrettende ärztliche Versorgung erhalten konnte.  Sie ließen ihn vorsätzlich verbluten.

(Hervorhebungen von mir, die Fußnoten wurden weggelassen)

Mit anderen Worten ging es beim Vorfall ganz und gar nicht um die bloße einmalige Beschießung eines Hauses. Vielmehr stellten die Aktionen der israelischen Streitkräfte im Wohnbezirk der Familie al-Samouni einen mörderischen Amoklauf in einem Gebiet dar, das der Kontrolle der israelischen Streitkräfte voll und ganz underlag, und in dem keine Kampfhandlungen stattfanden. Der Amoklauf begann damit, daß Soldaten gewaltsam Häuser betraten, wobei wehrlose Männer, Frauen und Kinder getötet und verwundet wurden. Die israelischen Bodenkräfte befahlen den Überlebenden dann, sich ins Haus von Wa’el al-Samouni zu begeben, wo sich letztendlich 100 Familienmitglieder mit wenig Essen oder Wasser, sowie (wie man sich wohl vorstellen kann) wenig Raum zu Atmen versammelten.

Das Haus wurde von israelischen Bodentruppen unmittelbar observiert. Diese hatten eine klare Sicht, als mehrere männliche Familienangehörige herauskamen, um Brennholz zu sammeln. Zunächst richteten die israelischen Streitkräfte das Feuer auf die Männer, dann wurde das Haus selbst bombardiert.

Als die Überlebenden des israelischen Bombenangriffs woanders Schutz suchen wollte, sagte man ihnen, sie sollen „zurück in den Tod“ gehen (eine Ausdrucksweise, die einem offen erklärten Tötungsvorsatz verblüffend ähnlich sieht, da es sich beim sich so Äußernden schließlich um einen Soldaten in der Armee handelt, die 100 wehrlosen Zivilpersonen, in ihrer Mehrheit Frauen und Kinder, befohlen hatte, in ein Haus zu gehen, das dann von ihnen angegriffen wurde).

Damit nicht genug, die israelischen Streitkräfte verhinderten tagelang vorsätzlich die Bergung der Verwundeten, und verweigerten Krankenwagen die Zufahrt zum Bezirk.  Und als der an den Händen gefesselte Iyad Samouni vor seiner Familie (mit der er in der Hoffnung nach Gaza-Stadt lief, dort Sicherheit zu finden) niedergeschossen wurde, drohten israelische Soldaten diejenigen zu erschießen, die ihm auf die Füße helfen wollten.  In einem Fall drohten die israelischen Soldaten damit, die Ehefrau und Kinder eines Mannes zu erschießen, die sie angefleht hatte, al-Samouni helfen zu dürfen. Al-Samounis Angehörige wurden unter Androhung des Todes gezwungen, ihn auf der Straße im Sterben liegen zu lassen.

Selbst wenn wir (aus reiner Großzügigkeit) davon ausgehen, daß die unbegründeten Behauptungen über Drohnenfehler Sinn machen (was aber nicht der Fall ist, da sich israelische Soldaten direkt vor Ort befanden, die über eine klare Sichtlinie verfügten, und es deshalb gar nicht notwendig war, sich auf Drohnenbilder zu verlassen), wird damit höchstens die Entscheidung erklärt, das Haus Wa’el al-Samounis unter Beschuß zu nehmen. Die „Drohnenthese“ liefert weder für die Tötungen durch Bodentruppen vor und nach der Beschießung des Hauses noch für die unbarmherzige Weigerung, die Bergung der Verwundeten zu gestatten, eine Erklärung.

Dies alles erwähnt Goldstone jedoch mit keinem Wort, weder die Tatsache, daß der Bezirk al-Samouni kein kampfgebiet war, noch daß er zu allen relevanten Zeitpunkten der vollen Kontrolle israelische Bodentruppen unterlag, noch daß die israelischen Streitkräften der Familie al-Samouni über erst befohlen hatte, sich in das Haus zu begeben, das sie dann unter Beschuß nahmen, noch daß sie Krankenwagen die Zufahrt zur Evakuierung der Verwundeten verweigerten und grausam mit denjenigen umgingen, die selber Bergungsversuche unternahmen (statt wie befohlen „in den Tod“ zurückzugehen).  Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß diese Tatsachen Goldstone unbekannt seien. Schließlich wurden sie in dem Bericht der Untersuchungsmission, deren Vorsitzender er gewesen war, sehr ausführlich beschrieben. So gesehen sind seine Auslassungen – die einen penibelst dokumentierten, äußerst grausamen, mörderischen Amoklauf in einen bedauernswerten Pfusch verwandeln – zutiefst unredlich.

Er versichert uns jedoch, daß „gegen einen israelischen Offizier ermittelt wird, weil dieser den Angriff befohlen hatte“, d.h. den Beschuß und nicht die anderen Greueltaten, die Goldstone wegläßt.  „Zwar ist dieses Ermittlungsverfahren von ihrer Dauer her frustrierend“, fährt er fort, „doch erscheint es“ aufgrund keinerlei Beweise, „daß ein sachgerechtes Verfahren läuft.“ Obwohl er keinen Grund anführt, weshalb man glauben sollte, Israels interne „Untersuchungen“ über Kriegsverbrechen seien zur Beendung der ausführlich dokumentierten Kultur der Straffreiheit im israelischen Militär rundum überholt worden, ist Goldstone „davon überzeugt, daß Israel entsprechend reagieren wird, falls dem Offizier Fahrlässigkeit nachgewiesen wird.“

Es mag dahingestellt werden, daß mit der Bezeichnung „ein sachgerechtes Verfahren“ rein gar nichts darüber gesagt worden ist, ob das Verfahren unabhängig, transparent und glaubwürdig ist und den Geschädigten zu fairen Bedingungen die Teilnahme und Aussage ermöglicht. Noch brauchen wir uns mit dem gleichermaßen leeren Wort „entsprechen“ aufzuhalten. Das Bemerkenswertest an dieser Behauptung ist, daß Goldstone davon ausgeht, daß einem Offizier, der entweder den Befehl zum Amoklauf im Bezirk al-Samouni erteilte oder sich weigerte, diesen zu verhindern, obwohl er dazu verpflichtet gewesen war, höchstens „Fahrlässigkeit“ vorgeworfen werden könnte. Goldstone war früher Richter am Verfassungsgericht, und hat umfrangreiche Erfahrungen an verschiedenen Strafgerichtshöfen für Kriegsverbrechen gesammelt. Er weiß sicherlich ganz genau, daß zwischen bloßer Fahrlässigkeit – die Nichtausübung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt – mit Todesfolge und dem Grad an spezifischem Tatvorsatz, dessen Vorliegen offensichtlich gewesen wäre, hätte Goldstone die Handlungen der israelischen Streitkräfte im Bezirk al-Samouni vollständig geschildert, eine gähnende Kluft liegt.  Offensichtlich reicht Goldstone selbst eine erdrückende Menge an Beweisen nicht aus, um Vorsatz zu bejahen, wenn es sich bei den Tätern um Israelis und nicht Palästinenser (deren Tatvorsatz „sich von selbst versteht“) handelt.

Goldstone auf dem Weg nach Kischinau

Über diesen schändlichen geschichtlichen Revisionismus ließe sich noch viel mehr sagen. Einige haben über Goldstones Motive spekuliert, und dabei auf die unablässige Belästigungs- und Einschüchterungskampagne gegen ihn hingewiesen, die fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Berichts begann. Goldstones Lob für die kosmetischen „Lehren“, die Israel aus der Sache gezogen haben soll (die bei ihrem Angriff auf die Mavi Marmara besonders eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurden), das naiv wäre, wenn es nicht von einem Mann ausgesprochen worden wäre, der ganz genau weiß, daß die Kultur der Straffreiheit völlig intakt ist, wäre auch einen Kommentar wert.  Dieser Artikel käme jedoch zu kurz, wenn die womöglich abscheulichste Äußerung im ganzen Kommentar keine Erwähnung fände:

Ebenso sollte der Menschenrechtsrat die neuerliche unverzeihliche, kaltblütige Abschlachtung eines jungen israelischen Paares mit drei ihrer kleinen Kinder in deren Betten verurteilen.

Mit dieser faulen Bemerkung macht Goldstone die (völlig irrelevanten) neuerlichen Morden im Außenposten Itamar im palästinensischen Westjordanland zum Thema, als ob diese Tötungen, die mehr als zwei jahre nach dem Gazaer Massaker begangen wurden, irgendwie ein neues Licht auf jene israelische Greueltat werfen würden.  Daß der Menschenrechtsrat Menschenrechtsverletzungen untersucht, die mit wenigen Ausnahmen nicht von Einzelpersonen, sondern von Staaten und staatsähnlichen Gebilden begangen werden, und seine Forderung somit völlig aberwitzig ist, brauchen wir nur am Rande zu bemerken. Selbst wenn es kein Aberwitz ware, die Tötungen in Itamar mit dem Gazaer Massaker in einem Atemzug zu erwähnen – Fakt bleibt, daß keiner weiß, wer der Täter ist. Zwar ist die israelische Regierung – und leider eine nicht unbedeutende Anzahl von Figuren von der israelischen „Linken“ – ohne jeglichen Beweis davon ausgegangen, daß die Tötungen bestimmt von Palästinensern begangen worden seien (oder von Gastarbeitern aus Thailand, aber natürlich könnte es unmöglich einer der Einwohner der Siedlung Itamar gewesen sein!), und dem sind Pogrome und Massenverhaftungen palästinensischer Zivilpersonen und thailändischer Gastarbeiter gefolgt, doch gibt es nicht mal die Spur eines Beweises, die die Annahme, der Täter sei Palästinenser, bestätigen könnte. Indem er diese durch nichts gestützte Annahme nicht nur verbreitet, sondern auch noch zur stillschweigenden relativierung des verbrecherischen israelischen Massakers in Gaza benutzt, hat Goldstone eine Tat begangen, auf die auch die guten Bürger Kischinaus stolz gewesen wären.

Einerlei, auf was für Motive diese gesammelten Verzerrungen und Verfälschungen der dokumentierten Tatsachen zurückgehen, kann man nur hoffen, daß es sich für ihn wenigstens gelohnt hat.

Wie Ron Paul wirklich drauf ist

(Original: Englisch)

Zu den beunruhigendsten Aspekten der fragmentären US-Linken gehört heutzutage die Tendenz vieler US-Linken (obwohl dies selbstverständlich nicht nur auf US-Linke zutrifft), sich bei der Wahl ihrer Verbündeten ziemlich ungeschickt anzustellen. Ein gutes Beispiel hierfür – auf das von Paul Street, Glenn Ford u.v.a. unermüdlich hingewiesen worden ist – war die Kombination aus Wunschdenken und Verdrängung, die soviele Linken und fortschrittlich Gesinnten dazu brachte, im mitterechten Neoliberalen Barack Obama, dem Liebling klassischer linker Institutionen wie Wall Street und der Kernkraftindustrie, einen unentbehrlichen Hoffnungsträger zu sehen.

Über die letzten paar Jahren ist es langsam gedämmert, daß dies eine ganz schlechte Entscheidung war, und daß viele Linken einem für sie nach Maß angefertigten Produkt der PR-Industrie zum Opfer gefallen waren. Sicherlich gehört dies zu den größten Erfolgen der Madison Avenue, und zwar dermaßen, daß der Wahlkampf Obama 2008 im Wettkampf um den begehrten Industriepreis für die beste Werbekampagne sogar Apple besiegte. Obamas Umstyling durch die PR-Indistrie, die einen mitterechten neoliberalen Militaristen, die nur Citigroup lieben konnte zum Liebling der Friedensbewegung mutierte, kann dem Umstyling eines gewissen Ron Paul jedoch nicht das Wasser reichen. Zwar war Madison Avenue in der Lage, den mitterechten Obama in einen angeblichen insgeheim Linken umzumodeln, Ron Pauls Propaganda ist es jedoch gelungen, aus einem rassistischen Rechtsextremisten, der den Leuten den Hof macht, von denen Trozki einmal vorschlug, man solle sie „mit dem Bürgersteig bekannt machen“, in einen potentiellen Verbündeten der Linken zu machen. Über diesen noch andauernden strategischen Pfusch ist jedoch viel weniger geschrieben worden als der Problematik eigentlich gebührt.

Im Folgenden werde ich die tatsächlichen Ansichten Ron Pauls kurz skizzieren, um aufzuzeigen, mit was für einem soviele linken Kriegsgegner ins Bett gesprungen sind. Dann werde ich einen Erklärungsansatz dafür liefern, weshalb so etwas immer und immer wieder passiert. Der Ron Paul, den Leser im folgenden vorfinden werden, wird dem zensierten Bild von Ron Paul als Politiker, der gegen die aktuellen Kriege tapfer ankämpft und sich vorgeblich gegen „das Imperium“ (von Imperialismus ist bei ihm nämlich keine Rede) und die Staatssicherheitsdoktrin, und für die Freiheit des Einzelnen, einsetzt, kaum entsprechen.

Der echte Ron Paul

(Mannomann, wie es mir auf die Nerven geht, daß wir für den prokommunistischen Schürzenjäger Martin Luther King einen gesetzlichen Feiertag haben. Gegen diesen Skandal habe ich als Abgeordneter mehrfach gestimmt. Welche Schande, daß dies von Ronald Reagan gebilligt wurde! Dem haben wir unseren alljährlichen Haßt-den-Weißen-Mann-Tag zu verdanken.

Hören Sie sich in jeder beliebigen Großstadt eine schwarze Talkshow im Radio an. Neben dem dort verbreiteten Rassenhaß sieht ein KKK-Aufmarsch noch friedlich aus. Die Schwarzen reden von ihrer eigenen rassischen Überlegenheit, davon, wie die Weißen insgeheim ihre Ausrottung planen und wie sie das Land erobern und Vergeltung üben werden. Der einzige Meinungsunterschied gilt der Frage, ob sie sich für die gewaltfreie Methode (d.h. staatliche Gewalt) Kings entscheiden oder ihre Ziele mit privater Gewalt durchboxen sollen.

– Ron Paul zur Bürgerrechtsbewegung

 

Als ich gelegentlich versucht habe, mit Ron Pauls linken Fans über dessen Ansichten zu diskutieren, hat man mir regelmäßig unterstellt, ich wolle ihn „verleumden“. Den Vorwurf kann man durchaus verstehen, denn Ron Paul vertritt Ansichten, mit denen kein anständiger Mensch in Verbindung gebracht wissen möchte. Weiter unten wird dargelegt, daß Ron Paul weit davon entfernt ist, ein „fast einzigartiger“ Politiker zu sein, der „die über die Pseudotrennlinie Links/Rechts hinausweist“ und „weder ein linkes noch ein rechtes Land schaffen will“, sondern sich – zusammen mit anderen „fast einzigartigen“ Politikern wie der KKK-Führer David Duke und die rassistischen Propagandisten Pat Buchanan und Paul Craig Roberts – sogar recht einfach auf der rechtsextremen Seite der  „Pseudotrennlinie Links-Rechts“orten läßt. Das einzige, was an der oben zitierten Laudatio wahr ist, ist, daß Ron Paul „ein linkes Land“ ganz bestimmt nicht schaffen will.

Bevor er auf nationaler (no pun intended) Ebene bekannt wurde, war Paul mit der Verbreitung seiner Ansichten etwas weniger vorsichtig. Im Jahre 1996, als Adolph Reed Jr. als erster Linker die „nichtssagende bis repressive neoliberale Politik“ Barack Obamas anprangerte, schrieb die linksfortschrittliche texanische Publizistin Molly Ivins:

 

Auf dem Spiel stehen ebenfalls der 5. Wahlbezirk in Dallas und der 2. Wahlbezirk Texas-Ost, sowie der erstaunliche 14. Wahlbezirk, der sich irgendwie überall befindet. Im erstaunlichen 14. Wahlbezirk steht der Demokrat Lefty Morris (Wahlspruch: „Lefty is Right!“) dem Republikaner/Libertarian Ron Paul gegenüber, der wiederum (wie so oft bei Libertarians) so weit rechts ist, daß er manchmal wieder links ist. Mein persönliches Lieblingsthema ist Pauls Newsletter, der 1993 „Verängstigten Amerikanern“ riet, wie sie ihr Geld außer Landes schaffen. Er riet an, daß die peruanische Staatsbürgerschaft für bloße 25 Mille käuflich zu erhalten sei. Daß wir alle Peruaner warden sollen, zählt zu den innovativsten Vorschlägen dieses festlichen Wahljahres. Was die Peruaner wohl davon halten werden?

Hierbei handelt es sich wohlgemerkt um einen relative harmlosen Auszug aus den Newslettern, die Ron Paul seit 1978 veröffentlicht.

„Bei den Verbrechern, die unsere Städte terrorisieren – mit ihren Randalen, und selbst wenn nicht randaliert wird“, verkündete einmal Pauls Newsletter, „handelt es nicht ausschließlich, doch größtenteils um junge schwarze Männer. Als Kinder wird ihnen der Haß auf Weiße eingebläut, man bringt ihnen bei, an alle Probleme der Schwarzen sei die Unterdrückung durch die Weißen schuld; sie lernen „gegen die Macht anzukämpfen“ und beim weißen Feind soviel Geld und Beutegut wie nur möglich zu erplündern. Autoraub, erfahren wir in einem Ron Paul-Newsletter aus dem Jahre 1992, „gehört zum Hip-Hop-Stil unter den schwarzen Jugentlichen, für die arglose Weiße leichte Beute sind. Dies haben sie womöglich am Beispiel des „prokommunistischen Schürzenjägers“ Martin Luther King Jnr gelernt, der „minderjährige Jungs und Mädchen verführte“ und „das Übel der zwangsmäßigen Rassentrennung durch das Übel der zwangsmäßigen Rassenintegration ersetzte.“ Es wundert also nicht, daß Pauls Newsletter mal den Martin Luther King-Gedenktag als „unser jährlicher Haßt-den-Weißen-Mann-Tag“ bezeichnete. 

In einem anderen Artikel unterhält uns Paul mit Geschichten über „Needlin’“ (Nadelstecherei), „eine neue Form des rassischen Terrorismus.“ „Auf mindestens 39 weiße Frauen“, behauptet er, „ist mit gebrauchten Spritzen eingestochen werden, die vielleicht mit AIDS infiziert worden sind, und zwar von Banden schwarzer Mädchen im Alter zwischen 12 und 14.“ Vor diesem Hintergrund dürfte es nicht unbedingt wundern, das Pauls Newsletter Afroamerikaner als „die Tiere“ bezeichnet und „Zooville“ als geeigneteren Namen für New York vorschlägt.

Es wird vielfach auf Pauls Bemühungen hingewiesen, jegliche Urheberschaft für die oben zitierten Äußerungen (sowie sehr viele anderen) abzustreiten und sich von ihnen zu distanzieren; diese Bemühungen kamen wohlgemerkt erst dann zum Vorschein, als Paul die Möglichkeit erblickte, sich Zugang zur nationalen Politbühne zu verschaffen.  1996, als sein Gegner in der texanischen Kongreßwahl Pauls Newsletter an die Wählerschaft verteilte, ging er mit den Äußerungen weniger schüchtern um:

 

Dr. Paul, der in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren Kongreßabgeordneter gewesen war, sagte am Dienstag, daß er den Newsletter seit 1985 herausgebe und an geschätzte 7000 bis 8000 Abonnenten vertreibe.  Ein Anruf an die gebührenfreie Nummer des Newsletters wurde von seinem Wahlkampfpersonal beantwortet. […]

Dr. Paul dementierte Unterstellungen, daß er Rassist sei, und sagte, daß er mit den Beiträgen keine Stereotypen wachrufen wollte.  Er sagte, daß sie in ihrer Ganzheit zu lesen und zitieren seien, um Verzerrungen zu vermeiden. […]

–Dallas Daily News, 22. Mai 1996

 

Einer von Pauls Wahlkampfsprechern sagte, daß die Äußerungen über die Angst vor schwarzen Männern Äußerungen schwarzer Führer wie Jesse Jackson widerspiegeln, die die Ausbreitung der Kriminalität in den Städten verurteilt haben.

Den Newsletter schreibe Paul weiterhin für eine ungenannte Anzahl Abonnenten, so der Wahlkampfsprecher.

Houston Chronicle, 23. Mai 1996

Im Wesentlichen argumentierte Paul damals anno 1996 also, daß seine Schriften – zu denen er sich öffentlich bekannte – aus dem Zusammenhang gerissen worden seien (bestimmt ein Symptom des „kommenden Rassenkriegs“).

Zwölf Jahre spatter war Paul jedoch offenbar klar geworden, daß seine Schutzbehauptungen nach dem Motto „Ja, natürlich habe ich Schwarze als kriminellen Viecher bezeichnet, die euer Hab und Gut plündern und euch mit AIDS infizieren wollen, aber das war doch nicht böse gemeint!“ es vor seinem neuen, linksgeneigten nationalen Publikum nicht unbedingt bringen würden:

„Die Zitate im New Republik-Artikel sind nicht von mir und entsprechen nicht dem, was ich glaube oder jemals geglaubt habe. Solche Worte habe ich niemals von mir gegeben, und ich veurteile derart bornierte Gedanken.“

„In Wirklichkeit stimmte ich mit Martin Luther King jun. schon immer darin überein, daß wir uns nur für den Charakter eines Menschen und nicht seiner Hauptfarbe interessieren sollen. Wie ich am 20. April 1999 im US-Repräsentantenhaus gesagt habe: „Ich erhebe mich aus Respekt vor dem Mut und den hohen Idealen von Rosa Parks, die sich unerschütterlich für die Rechte des Einzelnen gegen ungerechte Gesetze und unterdrückerische Regierungspolitik engagierte.“

 

Paul zufolge sind afroamerikanische „Tiere“ aber nicht die einzige Bedrohung, mit der wir es zu tun haben.  Wie er 2007 in einem Interview mit der Rassistenseite VDare.com (die von Paul Craig Roberts – ein weiterer merkwürdiger Schlafkamerad – höchstpersönlich mitherausgegeben wird), sehen wir zwei weiteren großen Gefahren ins Auge: illegal eingewanderte Werktätige, das soziale Sicherheitsnetze und die drohende „UNO-Regierung“:

Also, Ausgangspunkt bei mir ist, daß [die Migration] ein großes Problem [darstellt]. Ich habe zwar ungern was mit der Bundesregierung zu tun, ich finde aber, daß der Schutz unserer Staatsgrenzen in den Aufgabenbereich des Bundes fällt. Es ist aus verschiedenen Gründen zu dieser Sauerei gekommen. Zum einen warden die Gesetze nicht durchgesetzt. Ein weiteres Problem ist der Sozialstaat:   Arbeiter sind in diesem Land gefragt, weil unser Sozialstaat Menschen geradezu ermutigt, nicht zu arbeiten. Deshalb finden viele Arbeitsplätze keinen Interessenten. Dies stellt einen Anreiz für Migranten dar, hier reinzukommen und die Arbeitsplätze zu nehmen.

Das wird dadurch erschwert durch bundesrechtliche Verpflichtungen, die die Bundesstaaten zwingen, kostenlose ärztliche Versorgung [N.B.: Stimmt eigentlich nicht] – was in Texas die Krankenhäuser  regelrecht an den Rand des Bankrotts treibt – sowie kostenlose Schulbildung bereitzustellen .

Kern meiner Botschaft ist also, die Anreize für Rechtsverletzungen abzuschaffen – sowohl die Sozialleistungen [NB: Die selbst legal eingereiste Ausländer von Gesetzes wegen nicht beanspruchen dürfen] als auch die Amnestie- und Staatsbürgerschaftsversprechen [NB: Die es nicht gibt].

Die Idee, daß jeder, der in den USA geboren wird, automatisch Staatsbürger wird, möchte ich auch überdenken. Ich glaube nicht, daß es das in vielen Ländern gibt. Ich glaube auch nicht, daß das das Ziel des 14. Verfassungszusatzes [Gleichheit vor dem Gesetz, Staatsbürgerschaft für alle im Inland Geborenen] war. Persönlich bin ich der Meinung, daß dies einfachrechtlich gelöst werden könnte. Andere sehen das anders, also habe ich vorsichtshalber ein diesbezügliches Verfassungsänderungsverfahren eingeleitet.

Erschwert wird das Problem der illegalen Einwanderer, die unsere Arbeitsplätze nehmen, offenbar durch etwas, was Paul als „die Rassenfrage“ bezeichnet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Im selben Interview verkündete Paul auch: „Ich glaube nicht, daß der Preis der Arbeitskräfte durch Mindeslöhne geschützt werden sollte. Darüber sollte der Markt entscheiden. Auch, was die Obergrenzen betrifft.” Arbeitsrecht nach haitianischer Art.

Als erklärter Libertarian (im von der Rechten umgedeuteten Sinne, nicht im traditionellen Sinne des Wortes „libertär“) liebt Paul Worte wie Freiheit. Er hat sogar gesagt: „Was die Abtreibungsfrage betrifft, finde ich, daß ich das mit den Grundfreiheiten sehr genau nehme,“ abgesehen von denen der Frauen:

Das Gerede von Grundfreiheiten ist rein akademisch, wenn man nicht darüber redet, alles Leben wirklich zu schützen. Wer also die Freiheit bewahren will, muß auch das Leben der Ungeborenen genauso schützen.

Ich habe im Kongreß ein Verfassungsänderungsverfahren eingeleitet, die ich als Präsident auf jeden Fall fördern und durchboxen würde. Die Verfassungsänderung heißt Sanctity of Life Amendment (Verfassungszusatz über die Lebensheiligkeit).  Darin legen wir das Prinzip fest, daß das Leben mit der Empfängnis beginnt. Und da sagt einer, „Und wieso sagen Sie das?”Meine Antwort lautet: „Das ist aber kein politisches Statement von mir – das sagt die Wissenschaft!“

Ich weiß, daß wir alle an einer besseren Rechtspflege wollen und die Verfassung zum Schutze des Lebens ändern wollen. Manchmal denke ich aber, daß die schnellere Lösung dabei außer Acht gelassen wird, und mein Gesetzesentwurf entzieht dem Obersten Gerichtshof die Zuständigkeit für die Abtreibungsfrage. Wenn also ein einzelstaatliches Gesetz keine Abtreibungen erlaubt, kann es durch den Obersten Gerichtshof nicht mehr außer Kraft gesetzt werden.

Ich habe seine linken (ja, linken!) Verteidiger einwenden hören, daß Paul in der Abtreibungsfrage bloß die Macht der Regierung einschränken wolle, daß er also die Bundesgerichte und –regierung aus dem Weg schaffen wolle, damit die Bundesstaaten darüber entscheiden können.  Da frage ich mich schon, wie das ihrer Ansicht nach zu seiner Stimme für das bundesrechtliche Verbot des lebensrettenden Eingriffs Dilatation/Extraktion (D&X) paßt, das der OGH in seiner schändlichen Entscheidung Gonzales v. Carhart für verfassungskonform erklärte.

Es wundert also nicht gerade, daß Ron Paul für Begeisterung in den Reihen einiger Zeitgenossen sorgt, mit denen die Linke sich nicht unbedingt gern in Verbindung bringen läßt. Die Neonazi-Seite Stormfront spendete $500 an seinen Wahlkampf. Paul weigerte sich demonstrativ, diese Spende zurückzugeben. Die Unterstützung der Stormfront-Führer wurde von Paul mit einem Fototermin belohnt. Wie es einmal ein Stormfronter mit dem atmosphärischen Usernamen Wolfsnarl (etwa: Knurrwolf) formulierte:

Wenn wir so die dazu bringen können, ihre Rasse zu verteidigen, ohne daß sie aktiv glauben, daß sie das tun, also zum Beispiel durch normale Anti-Ausländer-Gruppierungen wie NumbersUSA oder dadurch, daß sie sich für Ron Paul engagieren.  Schließlich werden sich die meisten Handlanger der jüdisch-bolschewistischen Machtergreifung wohl kaum selbst so identifiziert haben.

Auch KKK-Führer David Duke „mag Ron Pauls Wahlkampf“ genug, um ihm ein paar kostenlose Ratschläge darüber zu erteilen, Was Ron Paul tun muß, um zu gewinnen, obgleich „Ron Paul nicht genug tut, um das Erbe und die Interessen der Euroamerikaner zu bewahren.“ NB: Dukes Kritik an Paul besteht nicht darin, daß dieser kein Rassist sei, sondern darin, daß er nicht rassistisch genug sei.

Zwar stimmt es, daß einem Menschen die Fans, die er so gewinnt, nicht unbedingt angelastet werden dürfen.  Alle, die in der Öffentlichkeit auch nur ein bißchen bekannt sind, werden wohl ein paar Fans haben, die Ansichten vertreiten, die sie nicht teilen. Barack Obama z.B. hat nach wie vor einige linksfortschrittliche Kriegsgegner als Fans.

Sein Umgang mit seinen Fans kann einem Menschen aber sehr wohl angelastet werden. Barack Obama hat sich redlich bemüht, zu zeigen, daß die Bewunderung mancher Linksfortschrittlichen für ihn nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Er hat sie wiederholt verhöhnt und verunglimpft, und verfolgt eine Agenda, die sich gegen all das richtet, wo die für sind. Der Umstand, daß manche Idioten einfach nicht zuhören, ist Obama also keineswegs anzulasten.

Anders liegt es bei Ron Paul. Erstens, wie wir bereits oben gesehen haben, teilt Ron Paul sehr wohl die Ansichten der Neonazis und sonstigen Rassisten, die ihm zujubeln. Er macht ihnen sogar seit Langem den Hof, über seinen Newsletter, sowie dadurch, daß er auf ihren Kundgebungen auftritt und mit ihren Medien (z.B. Vdare) spricht, und auch dadurch, daß er auf Fototerminen mit einigen ihrer Führer in die Kamera grinst. Das ist nicht gerade das Verhalten eines Mannes, der all das ablehnt, wofür die hakenkreuztragende Rechte steht; es sieht vielmehr einem ähnlich, der ihre Ansichten zumindest akzeptabel findet und ihre Unterstützung zu würdigen weiß. Allermindestens ist Paul die Nähe von Menschen, die seine linken Unterstützer gern krankenhausreif prügeln würden, ein bißchen zu angenehm.

Ron Paul: Symptom linker Dysfunition

Trotz über Jahre hinweg wiederholte Äußerungen, angesichts derer in jedem anderen Land die auf jedem seiner Auftritte eine Gegendemo organisieren würde, gibt es nicht wenige Linksgeneigten in den USA, die Ron Paul bis ans bittere Ende verteidigen und jeden Kritiker angreifen, der seine nicht ganz unproblematischen Ansichten thematisiert. Wieso eigentlich?

Die meisten linken Paul-Unterstützer, die mir über den Weg gelaufen sind, fassen ihre Unterstützung mehr oder weniger wie folgt zusammen: Er sei gegen den Krieg, gegen das Repressionsgesetz USA PATRIOT Act, gegen den Imperialismus und für die Legalisierung von Drogen. Jeder Hinweis darauf, daß er zugleich ein frauenfeindlicher Rassist, der die Rechte und Interessen der Werktätigen virulent angreift, wird entweder als Verleumdung oder Angstmache abgetan.

Mit andern Worten: „In ein paar Fragen ist er mit uns einer Meinung, also müssen wir ihn unterstützen. Was für eine Gesellschaft er schaffen will, ist doch völlig egal. Man kann ja nicht alles haben!“

Ebendiese Denkart führt einige in der Palästina-Solibewegung dazu, Leute wie Jeff Blankfort, Paul Craig Roberts und Gilad Atzmon zustimmend zu zitieren.

Im Grunde genommen stehen wir Linken ihrer Meinung nach allein in einer Ecke, und dürfen deshalb nicht wählerisch sein. „Na, wenn du Ron Paul nicht magst“, hat man mich oft gefragt, „nenn doch mal einen Politiker, den du gut findest.“ Daß wir uns auf der Suche nach „Freunden“ nicht auf die Politkaste mit ihren „anderthalb“ Parteien und ihrem schmalen Meinungsspektrum beschränken müssen, kommt ihnen offenbar überhaupt nicht in den Sinn.  Keine Basisbewegungen, kein Meiden des von den Konzernen gemanagten Wahlsystems zugunsten der Ausübung von Druck von unten und von außen – Du suchst dir nen Kandidaten und gehst auf gut Glück. Man kann ja nicht alles haben! Dank dieser Denkart ist es dem Wahlkampf Barack Obama gelungen, all die Graswurzelbewegungen der Bush-Jahre einzuschläfern.

Erschwert wird dies durch die oft erstaunliche politische Ignorant, die unter linken Amerikanern zu finden ist. Dort weisen Verschwörungstheorien von ganz Rechts die beunruhigende Tendenz auf, gen links zu migrieren (wenngleich mit bestimmten Änderungen).

Man betrachte z.B. die Verschwörungstheorien um die US-Zentralbank. Das erste Mal, daß ich jemand (fälschlicherweise) behaupten hörte, daß „keiner weiß, wem der Fed gehört“ und ferner (ebenso fälschlicherweise) daß die US-Notenbank in privater Hand liege, war in einem „Doku“ namens Freedom to Fascism. In diesem Pseudoku erfahren wir, daß amerikanische Arbeiter Freiheit und Wohlstand in beinahe utopischem Ausmaß genossen, bis 1916 die Einkommenssteuer eingeführt wurde (Frauen hatten die Freiheit, nicht wählen zu gehen, allen Werktätigen stand es frei, entweder auf Gewerkschaften zu verzichten oder erschossen zu werden, sowie statt mit echtem Geld mit Spielgeld bezahlt zu werden, Afroamerikaner hatten das Recht, sich unter grinsenden Wahnsinnigen photographieren zu lassen während sie am Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, Sie wissen schon). Zum Glück, so informierte uns der „Doku“, gebe es kein Gesetz, wonach wir verpflichtet wären, die Einkommenssteuer zu bezahlen. Hierzu wurden zahlreiche berüchtigte Hochstapler zitiert. Zu den anderen vom Film angeführen Beispielen des umherziehenden „faschistischen” Gespenstes gehörte u.a. die Tatsache, daß zur Zeit des Hurrikans Katrina gegen weiße Einwohner Louisianas tatsächlich ermittelt wurde, weil sie auf unbewaffnete schwarze Einwohner Louisianas das Feuer eröffneten, die den fatalen Fehler begangen hatten, die in ihre Wohngegend führende Brücke auf der Suche nach Zuflucht überquert zu haben.

Zwei Jahre später erfuhre ich, daß dieser Coughlin’sche Unsinn von einer Verschwörung „internationaler (sprich: jüdischer) Bankiers“ in Gestalt der „privaten“ Notenbank von zahlreichen Linksfortschrittlichen aufgeschleckt worden war. Natürlich wäre die ursprüngliche Version mit den utopischen Verhältnissen vor der Legalisierung der Gewerkschaften und der Einführung der Einkommenssteuer und des Frauenwahlrechts unter diesen Leuten der reinste Ladenhüter. Zum Glück ist jemandem eine andere verlorene Utopie eingefallen, deren Hauptdarsteller der beliebteste Kriegsverbrecher der USA, JFK, ist. JFK war in der Linken schon lange Gegenstand unsinniger Lobhudelei gewesen, weil er angeblich supergeheime Pläne (derart geheim, daß sie in seinen früher streng geheimen Akten mit keinem einzigen Wort auch nur angedeutet werden) zur Beendigung des Krieges, den er angefangen hatte und mit ganzem Herzen unterstützte. Nunmehr sollte der eingefleischte Rotenriecher John Fitzgerald Kenneda nicht nur klammheimlich dabei gewesen sein, die Besetzung Vietnams zu beenden, sondern auch noch drauf und dran, die US-Notenbank durch die Emission von Silberscheinen anzugreifen.

Mir geht es hierbei nicht darum, diese oder sonst irgendeine rechte Verschwörungstheorie zu widerlegen, die gen links gewandert ist – anderen, die masochistischer sind als meine Wenigkeit, ist das bereits wunderbar gelungen. Mein Interesse besteht vielmehr darin, daß dies eine Parallele zu der dysfunktionalen Verbündetensuche, die vielerorts in der fragmentären US-amerikanischen Linken anzutreffen ist.  Diese Anziehungskraft dieser Theorien besteht nicht etwa in ihrer Wahrhaftigkeit – die sind schließlich so falsch, daß es die Intelligenz beleidigt. Ihre Anziehungskraft – wie die von Ron Paul und seinesgleichen – besteht vielmehr darin, daß sie wenigstens oberflächlich den Anschein haben, mächtige kapitalistische Institutionen anzugreifen.  Außerdem tun sie dies auf eine Art und Weise, die Untättigkeit gerechtfertigt erscheinen läßt (die Institutionen seien allmächtig, die „Herdenmenschen“ würden einfach nicht zuhören, usw.), und sie liefern scheinbar eine Erklärung, warum wir in diesem Land keine funktionfähige Linke haben, ohne dem Nichtvorhandensein jedweder nachhaltiger Organisationsbemühungen, dem Unvermögen, zwischen gesundem Pluralismus und dysfunktionalem Opportunismus (z.B. Ron Paul) zu entscheiden , sowie dem Unvermögen, das Beharren auf Prinzipien von inselartiger Sektiererei zu unterscheiden, irgendeine Bedeutung beizumessen.

Sicherlich sind hierfür viele Faktoren verantwortlich. Es gibt z.B. die jahrehntelang andauernden Bemühungen durch FBI und Staatsschutz, linke Organisationen zu unterwandern und zersetzen, ein Propaganasystem, das 80% der Bevölkerung davon überzeugt, daß sie mit ihren Ansichten in der Minderheit sind, eine Demokratische partei, die sich als Oppositionspartei fortschrittlich gibt, eine Republikanische Partei, die dermaßen scheußlich ist, daß sogar die Demokraten daneben gut aussehen, sowie zahllose andere Hindernisse. Doch können uns diese äußeren Hindernisse von der Verantwortung, unsere eigene innere Dysfunktion kritisch unter die Lupe nehmen, nicht befreien.  Eine schwache, zerstuckelte, inselartige Linke kann zwar wenig tun gegen die massiven strukturellen Hindernisse, mit denen wir es zu tun haben, aber sicherlich können wir anfangen, vor unserer eigenen Haustür zu kehren.