Zunächst wurde es von einigen für einen Aprilscherz der Washington Post gehalten. Richard Goldstone, ehemals Vorsitzender der UNO-Untersuchungsmission zum Gaza-Konflikt, veröffentlichte am 1. April einen Kommentar mit dem Titel Reconsidering the Goldstone Report on Israel and War Crimes (Ein neuer Blick auf den Goldstone-Bericht zu Israel und Kriegsverbrechen). Darin behauptet Goldstone:
Wir wissen heute viel mehr über das, was im Gaza-Krieg 2008-2009, geschah, als wir damals wußten, als ich als Vorsitzender der vom UNO-Menschenrechtsrat einberufenen Untersuchungsmission fungierte, die das inzwischen als Goldstone-Bericht bekannte Dokument herausgab. Hätte ich damals das gewußt, was ich heute weiß, wäre der Goldstone-Bericht ein anderes Dokument geworden.
Der Bericht der UNO-Untersuchungsmission zum Gaza-Konflikt:
Ein kurzer Überblick
Bevor wir auf das zurückkommen, was “[Goldstone] heute weiß”, lohnt sich ein schneller Blick auf den Bericht selbst. Bei der Auslegung des vom UNO-Menschenrechtsrat erteilten Auftrags „gelangte die Mission zur Auffassung, daß alle Handlungen aller Beteiligten zu berücksichtigen waren, die möglicherweise Verletzungen der internationalen Menschenrechte bzw. des humanitären Völkerrechts darstellen könnten,“ sowie „damit verbundene Handlungen in den ganzen besetzten palästinensischen Gebieten und Israel.“
Diese Auslegung des Auftrags mag zwar ziemlich weit gefaßt wirken, jedoch fiel nach Auffassung der UNO-Mission folgende fundamentale Rechtsfrage nicht in den Auftragsumfang: Ob Israel zum Zeitpunkt des als „Aktion gegossenes Blei“ bekannten Angriffs irgendein Recht hatte, gegen die besetzten Gebiete, insbesondere den Gaza-Streifen, militärische Gewalt anzuwenden. Diese als ius ad bellum (das Recht, Krieg zu führen) bekannte Frage ist für die sachgemäße Anwendung des humanitären Völkerrechts – ius in bello (Recht im Kriege), die Instrumente wie die Genfer und Haager Abkommen umfaßt -, die festlegt, wie Gewalt in den Situationen angewandt werden darf, in denen die Gewaltanwendung rechtlich zulässig ist. Hat ein Staat kein ius ad bellum, ist jedwede Gewaltanwendung illegal, und zwar selbst dann, wenn sie sich gegen Ziele richtet, die sonst legitime militärische Ziele darstellen würden.
Wie ich und zahlreiche andere – darunter der Völkerrechtsexperte und UNO-Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten Prof. Richard Falk – wiederholt angemerkt haben, hatte Israel rechtlich gesehen kein Recht, gegen die besetzten palästinensischen Gebiete (Occupied Palestinian Territory, OPT), zu denen auch der Gaza-Streifen gehört, Krieg zu führen, da das Völkerrecht die Anwendung bzw. Androhung von Gewalt – vorbehaltlich bestimmter, eng gefaßter Ausnahmen – in den internationalen Beziehungen generell verbietet. Insbesondere muß ein Staat einem laufenden bzw. unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff ins Auge sehen und friedliche Mittel erschöpfen, bzw. den Beweis führen, daß keine friedlichen Mittel zu Gebote stehen, bevor zur Lösung eines Konflikts rechtmäßig auf militärische Gewalt zurückgegriffen werden darf. Da friedliche Mittel (d.h. den 2008 geschlossenen Waffenstillstand nicht zu verletzten und die angebotene 10-jährige Verlängerung des Waffenstillstandes zu akzeptieren) nicht nur zu Gebote standen, sondern in den Monaten, die dem israelischen Angriff auf Gaza am 4. November 2008 unmittelbar vorausgingen, sogar funktioniert hatten, war jede Gewaltanwendung seitens Israels illegal.
Daß dieser Umstand vom Bericht nicht erwähnt wurde, ist aus verschiedenerlei Gründen bemerkenswert. Erstens wurde die UNO-Charta im Bericht als Teil des bei den Ermittlungen anzuwendenden „normativen Rahmens“ ausdrücklich aufgeführt. Zum anderen wird vom Bericht mit keinem Wort ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese Kernfrage weggelassen wird bzw. argumentationshalber unterstellt, daß Israel ius ad bellum hätte; vielmehr wurde die Frage vollends ignoriert, und der Bericht geht – auch noch stillschweigend – davon aus, daß Israel tatsächlich das Recht gehabt hatte, Krieg zu führen.
Zwar wurden im Bericht zahlreiche Fragen aufgegriffen, die mit dem „Gegossenes Blei“-Massaker 2008-2009 nicht direkt in Verbindung standen, werden sich die folgenden Ausführungen auf die Behandlung der israelischen Handlungen gegen die Gazaer Bevölkerung während „Gegossenes Blei“ beschränken, da dies einziger Gegenstand von Goldstones „neuem Blick“ ist.
Insgesamt untersuchte der Bericht 36 Vorfälle, die sich innerhalb Gazas ereignet hatten (Abs. 16). Zu diesen gehören israelische Angriffe auf die zivile Regierungsinfrastruktur (darunter der Palästinensische Legislativrat, mehrere Polizeidienststellen, das Hauptgefängnis Gazas), von denen die israelischen Behörden frei zugaben, daß sie vorsätzlich angegriffen worden waren (Abs. 32, 34), die nach Auffassung der UNO-Mission die „Zerstörung von Gut, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt ist und in grossem Ausmass auf unerlaubte und willkürliche Weise vorgenommen wird.“ (Abs. 32), ein Kriegsverbrechen, darstellte. Zu den anderen Vorfällen gehörten Angriffe – die auch zugegebenermaßen vorsätzlich verübt wurden – auf Krankenhäuser und UNO-Einrichtungen, die durch Behauptungen gerechtfertigt wurden, die seien von palästinensischen Kämpfern als militärische Positionen verwandt worden. Für diese Behauptung fand die Mission keinerlei Beweise.
Was die Verpflichtung Israels betrifft, „praktisch mögliche Vorkehrungen“ zum Schutze der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu treffen, merkte die Mission an, daß den vielgepriesenen Warnungen und telefonischen Nachrichten an Zivilpersonen in anzugreifenden Gegenden die Glaubwürdigkeit und Bestimmtheit fehlten, und führte z.B. aus: „die Glaubwürdigkeit der Anweisungen, sich zur Sicherheit in die Stadtmitte zu begeben, wurde ebenfalls dadurch gemindert, daß die Stadtmitten während der Luftphase der Militäraktion selbst Gegenstand intensiver Angriffe geworden waren“ (Abs. 37), und daß die Verwendung von Lufbombardements durch Israel als „Warnung“ („Dachklopfen“) eigentlich „einen Angriff gegen die im Gebäude befindlichen Zivilpersonen“ darstellt (Abs. 37). Auch dieser Angriff auf Zivilpersonen und zivile Objekte, dies gaben die israelischen Behörden offen zu, war vorsätzlich.
In der Tat geht aus dem Bericht eindeutig hervor, daß die verwerflichsten israelischen Angriffe auf Gaza, das Bombardement einer UNO-Außenstelle und Kraftstoffdepot, in der Zivilpersonen Schutz suchten, sowie zweier Krankenhäuser, mit weißem Phosphor, von Israel als vorsätzliche Angriffe anerkannt wurden.
Goldstone kaschiert Israels zugegebenermaßen vorsätzliche Taten
Vor diesem Hintergrund ist Goldstones in der Washington Post öffentlich verkündeter „neuer Blick“ – auf der Grundlage dessen, was er „heute weiß“ – zu betrachten. Kern dieses „neuen Blicks“ sind „Vorwürfe vorsätzlichen Tuns durch Israel“ (gemeint sind offenbar „vorsätzliches Tun durch Israel“ und nicht „Behauptungen Israels, gewisse Handlungen seien vorsätzlich begangen“). „Daß die von der Hamas angeblich begangenen Verbrechen vorsätzlich waren“, beginnt er, „versteht sich von selbst“. Die Feststellung, daß Israels Verbrechen vorsätzlich begangen worden waren, „basierten“ hingegen „auf zivilen Todesfällen und Verletzten in Situationen, in denen unserer Untersuchungsmission keinerlei Beweise vorlagen, die eine sonstige sachgemäße Schlußfolgerung rechtfertigen könnten.“
Letztere Behauptung ist, wie oben bereits ausgeführt, wahr im technischen Sinne, aber zugleich verlogen, da damit der Eindruck geweckt wird, man sei nicht aufgrund positiver Feststellungen, sondern aus Mangel an Gegenbeweisen, zum Schluß gekommen, Israel habe vorsätzlich gehandelt. Dabei basierten die Feststellungen im Bericht, daß einige der niederträchtigsten Verbrechen Israels vorsätzlich begangen worden seien, darauf, daß Israel selbst den Vorsatz anerkannte. Wenn man die Hamas nach dem gleichen Maß messen würde, nach Goldstone Israel hier mißt, gäbe es Grund zu zweifeln, daß „die von der Hamas angeblich begangenen Verbrechen vorsätzlich waren“, da es zu „zivilen Todesfällen und Verletzten“ äußerst selten gekommen war in einem Zusammenhang, in dem man zu dem ebenso angemessenen Schluß kommen könnte, die Hamas hätte (womöglich zur Förderung der Landwirtschaft) harmlose Löcher in den Boden sprengen wollen.
Amtliche Politik:
Israels „Dahiya-Strategie“
Obwohl er einräumt, „die zu einigen von uns untersuchten Vorfällen“ sei bestätigt worden durch „Untersuchungen, die vom israelischen Militär veröffentlicht und im [endgültigen UNO-Bericht] anerkannt wurden“, will er uns nicht sagen, um welche Vorfälle es eigentlich handelt, nur, daß „einzelne Soldaten“ daran beteiligt gewesen seien. Er fügt jedoch hinzu, daß diese Untersuchungen „auch darauf hindeuten, daß Zivilpersonen nicht aufgrund amtlicher Politik vorsätzlich angegriffen wurden“.
Das Schöne daran, für ein Publikum zu schreiben, der das Dokument wahrscheinlich nicht kennt, über das man schreibt, ist, daß man sich gewisse Freiheiten erlauben kann. Wer den Bericht nicht gelesen hat, dem wird z.B. nicht sofort aufffallen, daß Goldstone zalreiche schwere Fälle – die oben zusammengefaßten Angriffe auf zivile Wohnhäuser, Zivilpersonen und die zivile Infrastruktur – weggelassen hat, in denen Israel aus freien Stücken zugab, vorsätzlich gehandelt zu haben.
Und wie sollen wir seine Behauptung verstehen, Zivilpersonen würden „nicht aufgrund amtlicher Politik vorsätzlich angegriffen“? Was die oben geschilderten Vorfälle betrifft, ist dies offenkundig falsch – israelische Behörden gaben öffentlich zu, daß diese Angriffe vorsätzlich waren, und auf der amtlichen Politik berührten, die „terroristische Infrastruktur“ der gewählten Hamas-Regierung zu vernichten. Hier will sich Goldstone offenbar den maximalen Spielraum gönnen – war ein Angriff auf Zivilpersonen vorsätzlich, kann er behaupten, es handele sich um die Tat verwirrter Einzeltäter, „einzelner Soldaten“, und nicht um „amtliche Politik“. Auf diese Behauptungen sollen wir jedoch offensichtlich nicht näher eingehen; Goldstone tut es jedenfalls nicht.
Im Bericht wird eine weitere „amtliche Politik“ erwähnt, um die Goldstones Kommentar einen Bogen macht: Israels „Dahiya-Doktrin“ Wie im Bericht ausgeführt wird, geht es bei diesem 2006 während des Kriegs gegen den Libanon entstandenen Konzept um „die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt und die Verursachung umfangreicher Schäden und Vernichtung an zivilem Besitz und ziviler Infrastruktur, sowie schweren Leides für die Zivilbevölkerung“ (Abs. 62). Näher darauf eingegangen wird von einem im Juni 2008 von Jaron London veröffentlichten Jediot-Acharonot-Artikel mit folgendem Untertitel: „Israel dämmert endlich, daß Araber für die Taten ihrer Führer zur Verantwortung gezogen werden müssen“
In einem Interview am Freitag mit Jediot Acharonot gab es vom Befehlshaber des Kommandos Nord der israelischen Streitkräfte Gadi Eisenkot klare Worte, die im Grunde genommen auf folgendes hinauslaufen: Im nächsten Zusammenstoß mit der Hisbollah werden wir uns keine Mühe geben, Tausende Raketenwerfer aufzuspüren, und wir werden das Blut unserer Soldaten bei Versuchen, befestigte Hisbollah-Positionen einzunehmen, nicht vergießen. Vielmehr werden wir den Libanon vernichten, und werden uns dabei von den Protesten der „Welt“ nicht beirren lassen.
Die 160 schiitischen Dörfer, die sich in schiitische Armeestützpunkte verwandelt haben, werden wir zerstampfen, und wir werden gnadenlos vorgehen, wenn es darum geht, die nationale Infrastruktur eines Staates anzugreifen, der praktisch der Herrschaft der Hisbollah unterliegt.
Mit andern Worten haben die israelischen Streitkräfte nach der israelischen Dahiya-Strategie zwischen Zivilpersonen und Kombattanten nicht zu unterschieden. Vielmehr besteht die Strategie Israels gemäß der Dahiya-Doktrin darin, im Zusammenhang eines breitangelegten Angriffs auf die Zivilbevölkerung Zivilpersonen und ziviele Objekte in großem Umfang zu vernichten. Damit wird der Vorsatz, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, eindeutig bekundet. Wie General Eisenkot in seinem Jediot-Interview bemerkte: „Hierbei handelt es sich nicht um eine Empfehlung. Dies ist ein Plan. Und er ist genehmigt worden.“ (Hervorhebungen von mir). Nach dem Massaker merkte der Goldstone-Bericht an, „aus einer Würdigung der unmittelbar in Augenschein genommenen Fakten geht hervor, daß [die Dahiya-Strategie] dem entspricht, was auch tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde“ (Abs. 62).
Israel untersucht sich selber und Goldstone klatscht Beifall dazu
Goldstone unternimmt keinen Versuch, die – sogar in einer der führenden Zeitungen Israels – eindeutig verkündeten Pläne der israelischen Militärführung, gezielte Anschläge auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur zu verüben, mit seinen Zweifeln über die „Vorwürfe vorsätzlichen Tuns“ in Einklang zu bringen. Einen Hinweis liefert er jedoch: Sein „neuer Blick“ auf die Frage, ob Israels Angriffe auf Gazaer Zivilpersonen vorsätzlich verübt wurden, beruht offenbar größtenteils auf dem Umstand, daß Israel „Untersuchungen“ durchgeführt hat. Diese „Untersuchungen“ durch Israel stellt er der Hamas gegenüber, diee ihm zufolge „nichts unternommen hat“, um die Feststellungen im Bericht über Kriegsverbrechen palästinensischer Kämpfer innerhalb Gazas zu untersuchen. Lassen wir den Umstand beiseite, daß Israel diese „Untersuchungen“ erst nach der öffentlichen Anprangerung im Bericht eingeleitet hat. Wieder einmal erfahren wir im Bericht selbst, was von den „Untersuchungen“ zu halten ist, die Goldstone heute lobt.
Im Abschnitt über Mechanismen der Verantwortlichkeit lieferte der Bericht eine ausführliche Analyse „des internen israelische Untersuchungs- und Strafverfolgungssystems sowohl auf der Grundlage der nationalen Gesetzgebung als auch in der tatsächlichen Praxis“ (Abs. 120) sowie der allgemeinen Kultur der Straffreiheit, die dieses System durchdringt, wenn es um Verbrechen an Palästinensern geht. Kern dieses Systems ist die sog. Einsatznachbesprechung, in denen „Vorfälle oder Aktionen“ von „von Soldaten derselben Einheit oder derselben Befehlskette zusammen mit einem vorgesetzten Offizier durchgesprochen. Sie sollen operativen Zwecken dienen” (Abs. 20). Es lohnt sich, die Feststellungen des Berichts über die israelischen Verantwortlichkeitsmechanismen – bzw. deren Nichtvorhandensein – länger zu zitieren:
121. […] An Untersuchungen [über schwere Rechtsverletzungen] stellen die Normen des Völkerrechts auch bestimmte Mindestanforderungen in Bezug auf Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Rechtzeitigkeit und Wirksamkeit. Die Mission ist der Ansicht, daß das israelische Untersuchungssystem nicht allen dieser Prinzipien Genüge tut. Bezüglich der „Einsatznachbesprechung“, die die israelischen Streitkräfte als Untersuchungsmechanismus einsetzt, vertritt die Kommission die Auffassung, daß ein Instrument, das eingesetzt wird, um Leistungen zu beurteilen und Lehren für die Zukunft zu ziehen, wohl kaum als der nach jedem Einsatz, bei dem es zu Vorwürfe über schwere Rechtsverletzungen gekommen ist, einzuleitende wirksame, unparteiische Untersuchungsmechanismus gelten kann. Auch genügt es nicht den international anerkannten Prinzipien der Unparteilichkeit und Rechtzeitigkeit von Ermittlungen. Dass eigentliche strafrechtliche Ermittlungen erst nach dem Abschluss der „Einsatznachbesprechung“ eingeleitet werden können stellt ein gravierendes Manko des israelischen Untersuchungssystems dar.
122. Die Mission kommt zu dem Schluss, dass schwerwiegende Zweifel an Israels Bereitschaft bestehen, seriöse Untersuchungen unparteiisch, unabhängig und wirksam durchzuführen, wie es das Völkerrecht vorschreibt. Die Nission ist auch der Ansicht, daß dem israelischen System insgesamt diskriminierende Aspekte innewohnen, die es palästinensischen Geschädigten sehr schwer macht, zu ihrem Recht zu kommen.
[…]
1399. In Vergangenheit wurde in jedem Fall, in dem ein an den Feindseligkeiten nicht beteiligter Palästinenser getötet wurde, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Diese Politik wurde 2000 geändert. Jetzt sind strafrechtliche Ermittlungen die Ausnahme. Diese Fälle werden jetzt lediglich von den Streitkräften selbst in einer „Einsatznachbesprechung“ besprochen. 2003 beantragten die Association for Civil Rights in Israel und B’Tselem, diesen Politikwechsel rückgängig zu machen, und forderten die Einleitung eines ein unabhängigen Ermittlungsverfahrens für jeden zivilen Todesfall. Im Antrag wurden u.a. die Einleitung von Ermittlungsverfahren in einzelnen Todesfällen begehrt und die Frage der Gesamtpolitik aufgeworfen. Erstere wurden abgelehnt; die Frage der Gesamtpolitik ist noch anhängig.
1400. [Die israelische Menschenrechtsorganisation] Yesh Din berichtet, daß mehr als 90 Prozent der Ermittlungsverfahren abgeschlossen werden, ohne daß „die öffentliche Klage erhoben“ wird. B’Tselem berichtete im Juni 2009, daß die Anklage gegen Herrn Braude, den Hebroner Siedler, der im Dezember 2009 dabei gefilmt wurde, drei Palästinenser zu beschießen und zu verletzen, nicht weiterverfolgt werde, da das Gericht die Vorlage „geheimer Beweismittel“ gegen ihn angeordnet hatte und die aus der Vorlage dieser Beweise erwachsende potentielle Gefahr für die Öffentlichkeit schwerer wiege als in der Entlassung einer bei der Begehung eines Gewaltverbrechens gefilmten Person läge.
1401. Im Juli 2009 wurde einem israelischen Aktivisten, dem der israelische Grenzzschutz in den Kopf geschossen hatte, in einem außergerichtlichen Vergleich Schadensersatz zugesprochen. Bis dato ist gegen den Kommandanten, der den Schußbefehl erteilt hatte, kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.
1402. Am 7. Juli 2008 wurde auf den verblendeten und in Handschellen gelegten Ashraf Abu-Rahma aus nächster Nähe geschossen. Der Vorfall wurde gefilmt und im Fernsehen breit veröffentlicht. Als die israelische Militärstaatsanwaltschaft dem Offizier, der den Schußbefehl erteilt hatte, „unwürdiges Verhalten“ zur Last legte, führte der israelische Professor für Völkerrecht Oma Ben-Naftali aus: „Die Entscheidung (wies) auf eine Politik der Toleranz gegenüber Gewalt gegen gewaltfreie zivile Protestaktionen gegen die Errichtung der Trennmauer hin.“ Desweiteren führte er aus, „Eine solche Politik hat zweierlei Auswirkungen: Erstens könnte dadurch „unwürdiges Verhalten“ – was rechtlich gesehen ein Kriegsverbrechen darstellt – in ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwandelt werden; zweitens könnte es als Einladung an die internationale Gemeinschaft gedeutet werden, durch die Ausübung der universalen Zuständigkeit einzugreifen.
(Hervorhebungen von mir)
Mit wenigen Worten heißt das, daß aufgrund der langen Geschichte der Straffreiheit selbst bei gut dokumentierten Verbrechen gegen Palästinenser und andere, die sich gegen die israelische Besatzung engagieren, die israelischen „Untersuchungen“, die Goldstone für ein so positives Zeichen hält, in etwa so glaubwürdig sind wie Moshe Katsav auf einer Demo gegen Gewalt gegen Frauen.
Die Verharmlosung des Massakers an der Familie al-Samouni
Als Beispiel der israelischen „Untersuchungen“ erwähnt Goldstone das, was er für den „schwersten im Goldstone-Bericht untersuchten Angriff“ hält, und zwar die Tötung von 29 Angehörigen der Familie al-Samouni (deren Namen Goldstone falsch schreibt) in ihrem Haus. „Die Beschießung des Hauses,“ behauptet Goldstone, ohne Beweise anzuführen, „war allem Anschein nach Folge der Mißdeutung eines Drohnenbildes durch einen israelischen Kommandanten.“ Es ist nun mal nicht leicht, einen einzelnen Angriff als „schwersten“ Angriff eines vier Wochen andauernden Massakers, in dem es auch zum Einsatz chemischer Waffen gegen Krankenhäuser und UNO-Einrichtungen, in denen Zivilpersonen Schutz suchten, einem Amoklauf in einer Hühnerfarm, bei der der Hof zerstört und Tausende Hühner getötet wurden, und zur Vernichtung der einzigen Binnenquelle Gazas für Baubeton kam, aber die Abschlachtung der Familie al-Samouni dürfte in der engeren Wahl auf keinen Fall fehlen.
Die Tötungen der Angehörigen der Familie al-Samouni, die wir nunmehr für die Folge eines mißdeuteten Drohnenbildes halten sollen, wurden im Bericht ausführlich besprochen. Die Zerstörung der al-Samouni-Gegend, in der die Familie al-Samouni wohnt, war dermaßen umfangreich, daß die UNO-Mission zum Zeitpunkt ihres Besuchs im Juni 2009 „nur noch vereinzelte Gebäude und wenige Zelte, inmitten vom Schutt von Häuserruinen und von Planierraupen platt gemachtem Ackerland“ vorfand (Abs. 705). Zu den ersten getöteten Angehörigen der Familie al-Samouni gehörte Ateya al-Samouni, dessen Haus von israelischen Soldaten gewaltsam betreten wurde, die dabei „eine Art Sprengsatz“ warfen. „Inmitten des Rauchs, des Feuers und des Lärms“ heißt es weiter,
trat Ateya al-Samouni mit gehobenen Armen vor und erklärte, dass er Eigentümer des Hauses sei. Die Soldaten erschossen ihn noch, als er seinen Ausweis und einen israelischen Führerschein in den Händen hielt. Dann eröffneten die Soldaten das Feuer im Zimmer, in dem sich alle etwa 20 Familienmitglieder versammelt hatten. Mehrere wurden verletzt; besonders schwere Verletzungen erlitt Ahmad, ein 4-jähriger Junge. Soldaten mit Nachtsichtgeräten betraten das Zimmer und inspizierten alle Anwesenden gründlich. Die Soldaten zogen dann ins nächste Zimmer und steckten es in Brand. Der Rauch aus diesem Zimmer begann bald, die Familie zu ersticken. Ein Zeuge, der mit der Kommission sprach, erinnerte sich daran, dass ein „weißes Zeugs“ seinem 17-monatigen Neffen aus dem Mund kommen sah und ihm beim Atmen half.
708. Gegen 6.30 Uhr befahlen die Soldaten der Familie, das Haus zu verlassen. Sie mußten Ateyas Leiche zurücklassen, trugen aber Ahmad, der noch atmete. Die Familie versuchte, in das Haus eines Onkels nebenan hineinzugehen, dies erlaubten die Soldaten ihnen jedoch nicht. Die Soldaten befahlen ihnen, in die Straße zu gehen und die Gegend zu verlassen, ein paar Meter weiter wurden sie jedoch von einer anderen Gruppe Soldaten angehalten, die ihnen befahl, sich ganz auszuziehen. Faraj al-Samouni, der den schwer verletzten Ahmad trug, flehte sie an, die Verletzten nach Gaza bringen zu dürfen. Die Soldaten sollen mit Beschimpfungen geantwortet haben. Sie sagten ebenfalls „Ihr seid schlechte Araber.” „Ihr geht nach Nitzarim“.
709. Faraj al-Samouni, dessen Mutter und die anderen betraten das Haus eines Onkels in der Gegend. Von dort aus riefen sie das PRCS. Wie weiter unten geschildert wird, gelang es gegen 16.00 Uhr einem PRCS-Krankenwagen, in die Nähe des Hauses, in dem Ahmad verwundet lag, zu gelangen, wurde jedoch von den israelischen Streitkräften daran gehindert, ihn zu retten. Ahmad verstarb gegen 2.00 Uhr in der Nacht des 4. auf den 5. Januar. Am folgenden Morgen entschlossen sich die im Hause Anwesenden etwa 45 Personen, wegzugehen. Sie machten sich weiße Flaggen und gingen in Richtung Salah ad-Din-Straße. Eine Gruppe Soldaten in der Straße befahl ihnen, ins Haus zurückzugehen, der Zeuge sagt jedoch, sie wären in Richtung Gaza weitergelaufen. Die Soldaten schossen auf ihre Füße, ohne jedoch irgendjemanden zu verletzten. Zwei Kilometer weiter im Norden in der Salah ad-Din-Straße fanden sie Krankenwagen, die die Verletzten nach Gaza ins al-Shifa-Krankenhaus verbrachten.
[…] Bei Saleh al-Samouni klopften die israelischen Soldaten an die Haustür und befahlen den Leuten im Haus, sie zu öffnen. Die Personen traten einer nach dem anderen heraus und Salehs Vater stellte den Soldaten auf Hebräisch alle Familienmitglieder vor. Nach Angaben von Saleh al-Samouni baten sie darum, nach Gaza-Stadt gehen zu dürfen, aber die Soldaten lehnten dies ab und befahlen ihnen stattdessen, zu Wa’el al-Samounis Haus auf der anderen Seite der Straße zu gehen.
711. Die israelischen Soldaten befahlen auch den Bewohnern anderer Häuser sich zu Wa’el al-Samounis Haus zu begeben. Folglich versammelten sich am 4. Januar mittags ungefähr hundert Mitglieder der Großfamilie al-Samouni, in ihrer Mehrheit Frauen und Kinder, in diesem Haus. Es gab kaum Wasser und keine Milch für die Säuglinge. 17.00 Uhr am 4. Januar, ging eine der Frauen heraus, um Brennholz zu holen. Es gab etwas Mehl im Haus und sie bereitete Brot zu, ein Stück für jeden Anwesenden.
712. Am Morgen des 5. Januar 2009, zwischen 6.30 und 7.00 Uhr, verließen Wa’el al-Samouni, Saleh al-Samouni, Hamdi Maher al-Samouni, Muhammad Ibrahim al-Samouni und Iyad al-Samouni das Haus, um Brennholz zu sammeln. Rashad Helmi al-Samouni blieb in der Nähe der Haustür stehen. Saleh al-Samouni machte die Mission darauf aufmerksam, dass die israelischen Soldaten von den Dächern der Häuser aus, wo sie Stellung bezogen hatten, eine klare Sicht auf die Männer hatten. Plötzlich schlug ein Geschoß neben den fünf Männern in der Nähe des Tors zu Wa’els Haus ein und tötete Muhammad Ibrahmim al-Samouni und wahrscheinlich auch Hamdi Maher al-Samouni. Den anderen Männern gelang es, wieder in das Innere des Hauses zu flüchten. Innerhalb von ca. fünf Minuten, hatten zwei oder drei weitere Geschosse das Haus direkt getroffen. Bei den öffentlichen Anhörungen berichteten Saleh und Wa’el al-Samouni, dass diese Raketen von Apache–Hubschraubern aus abgeschossen worden seien. Die eingesetzte Munitionsart konnte die Kommission nicht bestimmen.
713. Saleh al-Samouni sagte aus, dass beim Angriff auf Wa’el al-Samounis Haus insgesamt 21 Familienmitglieder getötet und 19 verletzt worden seien. Unter den Toten waren Saleh al-Samounis Vater, Talal Helmi al-Samouni, seine Mutter Rahma Muhammad al-Samouni und seine zweijährige Tochter Azza. Drei seiner Söhne im Alter von fünf, drei und knapp einem Jahr (Mahmoud, Omar und Ahmad) wurden verletzt, überlebten jedoch. Von Wa’els nächsten Angehörigen wurden eine Tochter und ein Sohn (Rezqa, 14 und Fares, 12) getötet, während zwei kleinere Kinder (Abdullah und Muhammad) verletzt wurden. Die Photographien aller Toten wurden der Mission im Haus der Familie al-Samouni vorgelegt und während der öffentlichen Anhörung in Gaza ausgestellt.
714. Nach dem Beschuß des Hauses von Wa’el al-Samouni entschlossen sich die meisten derjenigen, die noch im Haus waren, sofort aufzubrechen und nach Gaza-Stadt zu laufen, wobei sie die Toten und einige der Verwundeten zurücklassen mußten. Die Frauen machten Zeichen mit ihren Tüchern. Die Soldaten hingegen erteilten den al-Samounis den Befehl, ins Haus zurückzukehren. Als Familienmitglieder erwiderten, dass unter ihnen viele Verletzte seien, antworteten die Soldaten nach Angaben von Saleh al-Samouni, „Geht zurück zum Tod”. Sie entschlossen sich, dieser Anweisung keine Folge zu leisten, und liefen stattdessen Richtung Gaza-Stadt. Sobald sie in Gaza waren, gingen sie zum PRCS und informierten es über die Verwundeten, die zurückgeblieben waren.
715. Das PRCS unternahm am 4. Januar 2009 gegen 16.00 Uhr, nachdem sie den Notruf der Familie von Ateya al-Samouni erhalten hatten, den ersten Versuch, die Verwundeten aus dem Bezirk al-Samouni zu evakuieren. Das PRCS hatte das IKRK angerufen mit der Bitte, die Begehung des Gebietes mit den israelischen Streitkräften zu koordinieren. Einem PRCS–Krankenwagen aus dem al-Quds-Krankenhaus gelang es, den Bezirk al-Samouni zu erreichen. Der Krankenhaus war von der Salah ad-Din-Straße nach Westen gefahren, als bei einem der ersten Häuser des Bezirks israelische Soldaten, die am Boden und auf dem Dach eines der Häuser Stellung bezogen hatten, ihre Gewehre auf ihn richteten und ihn zum Anhalten aufforderten. Der Fahrer und die Krankenschwester erhielten den Befehl, das Auto zu verlassen, ihre Hände zu heben, ihre Kleider auszuziehen und sich auf den Boden zu legen. Anschließend durchsuchten israelische Soldaten sie und den Wagen ungefähr 5 bis 10 Minuten lang. Nachdem sie nichts gefunden hatten, erteilten die Soldaten dem Personal des Krankenwagens den Befehl, nach Gaza-Stadt zurückzukehren, trotz seiner Bitten, einige Verwundeten bergen zu dürfen. Bei seiner Befragung durch die Mission erinnerte sich der Fahrer des Krankenwagens daran, Frauen und Kinder gesehen zu haben, die unter den Treppen eines Hauses kauerten, die er jedoch nicht mitnehmen durfte.
716. Als die ersten Evakuierten der Familie al-Samouni am 5. Januar 2009 in Gaza-Stadt ankamen, ersuchten PRCS und IKRK die israelischen Streitkräften, in den Bezirk al-Samouni fahren und die Verwundeten evakuieren zu dürfen. Diese Gesuche wurden abgelehnt. Trotz mangelnder Koordination mit den israelischen Streitkräften fuhren am 6. Januar gegen 18.45 Uhr ein IKRK-Wagen und vier PRCS-Krankenwagen in den Bezirk al-Samouni; es wurde ihnen aber nicht erlaubt, das Gebiet zu betreten und die Verwundeten zu evakuieren.
717. Erst am 7. Januar 2009 erlaubten die israelischen Streitkräftedem IKRK und dem PRCS, während einer „vorübergehenden Feuerpause“, die am gleichen Tag von 13.00 bis 16.00 Uhr ausgerufen worden war, in den Bezirk al-Samouni zu fahren. Drei PRCS-Krankenwagen, ein IKRK-Wagen und ein weiteres Auto, das zum Transport von Leichen eingesetzt wurde, fuhren die Salah ad-Din-Straße von Gaza-Stadt hinunter bis 1,5 km nördlich des Bezirks al-Samouni, wo sie die Straße von Sandhügeln versperrt vorfanden. Das IKRK versuchte, sich über die Öffnung der Straße mit den israelischen Streitkräften zu verständigen, diese lehnten dies aber ab und forderten das Krankenwagenpersonal auf, die restlichen 1,5 Km zu Fuß zu gehen.
718. Sobald sie im Bezirk al-Samouni angekommen waren, suchten sie in den Häusern nach Überlebenden. Ein Krankenwagenfahrer, der Mitglied des Teams war, berichtete der Kommission, in Wa’el al-Samounis Haus 15 Leichen und 2 schwerverletzte Kinder gefunden zu haben. Eines der Kinder hatte eine tiefe Wunde in der Schulter, die infiziert war und einen fauligen Geruch verströmte. Die Kinder waren dehydriert und hatten Angst vor dem PRCS-Mitarbeiter. In einem Haus in der Nähe fanden sie in einem Raum 11 Menschen, darunter eine tote Frau.
719. Das Rettungsteams hatten lediglich drei Stunden Zeit, um die gesamte Operation durchzuführen; die Evakuierten waren körperlich schwach und emotional sehr instabil. Die Straße war durch den Einschlag von Granaten und die Bewegungen der israelischen Streitkräfte mit ihren Panzern und Planierraupen beschädigt worden. Die Retter legten alle Alten auf eine Karre und zogen diese selbst 1,5 Kilometer bis zu dem Ort, an dem man sie zum Verlassen der Krankenwagen gezwungen hatte. Die Leichen auf der Straße und unter den Trümmern, darunter Frauen und Kinder, ebenso wie die Toten, die in den Häusern gefunden worden waren, mußten zurückgelassen werden. Auf dem Weg zurück zu den Wagen, betraten PRCS–Mitarbeiter ein Haus, in dem sie einen Mann mit zwei gebrochenen Beinen fanden. Während sie den Mann aus dem Haus trugen, begannen die israelischen Streitkräften damit, das Haus unter Beschuß zu nehmen, vermutlich als Warnung, dass die dreistündige „vorübergehende Feuerpause“ sich ihrem Ende näherte. Das PRCS konnte erst wieder am 18. Januar in das Gebiet zurückkehren.
720. Am 18. Januar 2009 , konnten Mitglieder der Familie al-Samouni endlich wieder in ihr Wohngebiet zurückkehren. Wa’el al-Samounis Haus fanden sie, wie die meisten Häuser der Nachbarschaft und die kleine Moschee, demoliert vor. Die israelischen Streitkräften hatten das Gebäude über den Leichen der während des Angriffs Gestorbenen zerstört. Photographien, die am 18. Januar gemacht wurden, zeigen aus den Trümmern dem Sand herausragende Füße und Beine, sowie die Retter, die die Leichen von Frauen, Männern und Kindern herauszogen. Ein Zeuge schilderte der Mission, wie Familienmitglieder die Leichen auf Pferdekarren wegschafften, wie ein junger Mann im Schockzustand neben den Ruinen seines Hauses saß, und vor allem den alles durchdringenden Gestank des Todes.
[…]
727. Hinsichtlich des Angriffs auf die fünf Männer, die das Haus von Wa’el al-Samouni verlassen hatten, um am frühen Morgen des 5. Januar 2009 Brennholz zu holen, sowie wie des nachfolgenden Beschusses des Hauses, stellt die Mission fest, dass die Mitglieder der anderen Familien, die von den israelischen Streitkräften in Wa’el al-Samounis Haus verbracht worden waren, nach Angaben von Saleh al-Samouni von den israelischen Soldaten durchsucht wurden. Alles deutet darauf hin, dass die israelischen Streitkräfte Kenntnis davon hatten, dass sich ungefähr hundert Zivilpersonen im Haus aufhielten. In der Tat hatten die Familien zuvor darum ersucht, das Gebiet verlassen zu dürfen, um sich an einen sichereren Ort zu begeben, aber man hat ihnen befohlen, im Haus von Wa’el al-Samouni zu bleiben. Dieses Haus befand sich unter ständiger Beobachtung durch israelische Soldaten, die zu diesem Zeitpunkt die volle Kontrolle über das Gebiet hatten.
[…]
729. Die Mission merkt an, dass die israelischen Streitkräfte vier Tage später abstritten, dass ein Angriff auf das Haus von Wa’el al-Samouni stattgefunden hatte. Am 9. Januar 2009 soll israelischer Armeesprecher Jacob Dallal der Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt haben, “die IDF hat Menschen nicht in irgendein bestimmtes Gebäude gedrängt…. Darüber hinaus haben wir den Waffengebrauch der IDF am 5. Januar überprüft. Die IDF hat am 5. Januar kein Gebäude in oder in der Nähe von Zeitun unter Beschuß genommen.” Der Kommission ist keine spätere Verlautbarung der israelischen Regierung bekannt, die dieser kategorischen Leugnung widersprochen hätte, oder die darauf hingewiesen hätte, dass die Behauptungen weiter untersucht worden wären.
735. Am Morgen des 5. Januar 2009, nach dem Beschuß von Wa’el al-Samounis Haus flüchteten zwei Überlebende ins Haus von Asaad al-Samouni. Auf Grund der vorliegenden Aussagenkann die Kommission nicht feststellen, ob die israelischen Soldaten den Mitgliedern der Familie al-Samouni den Befehl erteilten das Haus zu verlassen und nach Gaza-Stadt zu laufen oder ob es die Familien selbst waren, die um die Erlaubnis baten, wegzugehen, nachdem sie die erschreckenden Neuigkeiten darüber, was ihren Verwandten in Wa’el al-Samounis Haus widerfahren war, erfahren hatten. Auf jeden Fall machten sich die Personen, die sich im Haus von Asaad al-Samouni versammelt hatten, auf den Weg, verließen das Haus und gingen die al-Samouni-Straße entlang, um auf der Salah ad-Din-Straße–Straße in Richtung Gaza-Stadt zu laufen. Die Soldaten hatten sie angewiesen, direkt nach Gaza zu laufen ohne anzuhalten oder Umwege zu machen. Die Männer trugen noch immer Handschellen und die Soldaten erzählten ihnen, dass man sie erschießen würde, wenn sie versuchten, die Handschellen zu entfernen.
736. Auf der Salah ad-Din-Straße, einige Meter nördlich von der al-Samouni-Straße und vor dem Haus der Familie Juha, eröffnete ein einzelner oder mehrere der israelischen Soldaten, die auf den Dächern der Häuser Stellung bezogen hatten, das Feuer. Iyad wurde ins Bein getroffen und fiel zu Boden. Muhammad Asaad al-Samouni, der unmittelbar hinter ihm lief, machte Anstalten, ihm zu helfen, aber ein israelischer Soldat auf einem Dach befahl ihm weiterzugehen. Als er den roten Punkt des Laserrichtstrahls auf seinem Körper sah und begriffen hatte, dass der israelische Soldat ihn ins Visier genommen hatte, gab er seinen Hilfeversuch auf. Der israelische Soldat feuerte Warnschüsse auf Muhammad Asaad al-Samounis Vater, um ihn daran zu hindern, Iyad zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Iyad al-Samounis Frau und Kinder wurden durch weitere Warnschüsse daran gehindert, ihm zu Hilfe zu kommen. Fawzi Arafat, der in einer anderen Gruppe lief auf dem Weg vom Bezirk al-Samouni nach Gaza-Stadt, berichtete der Kommission, gesehen zu haben, wie Iyad al-Samouni am Boden liege, die Hände mit weißen Plastikhandschellen gefesselt, während Blut aus der Wunde an seinem Bein geschossen, und er um Hilfe gebettelt habe. Fawzi al-Samouni sagte aus, dass er zu einem israelischen Soldaten geschrien habe: “Wir wollen den Verletzten bergen.” Der Soldat jedoch richtete sein Gewehr auf Iyads Frau und seine Kinder und befahl ihnen, ohne ihn weiterzugehen.
[…]
741. Obwohl die Möglichkeit besteht, dass die Schüsse auf Iyad al-Samouni ihn nicht töten, sondern lediglich kampfunfähig machen sollten, indem sie seine Angehörigen und Freunde mit der Erschießung drohten, haben die israelischen Streitkräfte dafür gesorgt, dass er keine lebensrettende ärztliche Versorgung erhalten konnte. Sie ließen ihn vorsätzlich verbluten.
(Hervorhebungen von mir, die Fußnoten wurden weggelassen)
Mit anderen Worten ging es beim Vorfall ganz und gar nicht um die bloße einmalige Beschießung eines Hauses. Vielmehr stellten die Aktionen der israelischen Streitkräfte im Wohnbezirk der Familie al-Samouni einen mörderischen Amoklauf in einem Gebiet dar, das der Kontrolle der israelischen Streitkräfte voll und ganz underlag, und in dem keine Kampfhandlungen stattfanden. Der Amoklauf begann damit, daß Soldaten gewaltsam Häuser betraten, wobei wehrlose Männer, Frauen und Kinder getötet und verwundet wurden. Die israelischen Bodenkräfte befahlen den Überlebenden dann, sich ins Haus von Wa’el al-Samouni zu begeben, wo sich letztendlich 100 Familienmitglieder mit wenig Essen oder Wasser, sowie (wie man sich wohl vorstellen kann) wenig Raum zu Atmen versammelten.
Das Haus wurde von israelischen Bodentruppen unmittelbar observiert. Diese hatten eine klare Sicht, als mehrere männliche Familienangehörige herauskamen, um Brennholz zu sammeln. Zunächst richteten die israelischen Streitkräfte das Feuer auf die Männer, dann wurde das Haus selbst bombardiert.
Als die Überlebenden des israelischen Bombenangriffs woanders Schutz suchen wollte, sagte man ihnen, sie sollen „zurück in den Tod“ gehen (eine Ausdrucksweise, die einem offen erklärten Tötungsvorsatz verblüffend ähnlich sieht, da es sich beim sich so Äußernden schließlich um einen Soldaten in der Armee handelt, die 100 wehrlosen Zivilpersonen, in ihrer Mehrheit Frauen und Kinder, befohlen hatte, in ein Haus zu gehen, das dann von ihnen angegriffen wurde).
Damit nicht genug, die israelischen Streitkräfte verhinderten tagelang vorsätzlich die Bergung der Verwundeten, und verweigerten Krankenwagen die Zufahrt zum Bezirk. Und als der an den Händen gefesselte Iyad Samouni vor seiner Familie (mit der er in der Hoffnung nach Gaza-Stadt lief, dort Sicherheit zu finden) niedergeschossen wurde, drohten israelische Soldaten diejenigen zu erschießen, die ihm auf die Füße helfen wollten. In einem Fall drohten die israelischen Soldaten damit, die Ehefrau und Kinder eines Mannes zu erschießen, die sie angefleht hatte, al-Samouni helfen zu dürfen. Al-Samounis Angehörige wurden unter Androhung des Todes gezwungen, ihn auf der Straße im Sterben liegen zu lassen.
Selbst wenn wir (aus reiner Großzügigkeit) davon ausgehen, daß die unbegründeten Behauptungen über Drohnenfehler Sinn machen (was aber nicht der Fall ist, da sich israelische Soldaten direkt vor Ort befanden, die über eine klare Sichtlinie verfügten, und es deshalb gar nicht notwendig war, sich auf Drohnenbilder zu verlassen), wird damit höchstens die Entscheidung erklärt, das Haus Wa’el al-Samounis unter Beschuß zu nehmen. Die „Drohnenthese“ liefert weder für die Tötungen durch Bodentruppen vor und nach der Beschießung des Hauses noch für die unbarmherzige Weigerung, die Bergung der Verwundeten zu gestatten, eine Erklärung.
Dies alles erwähnt Goldstone jedoch mit keinem Wort, weder die Tatsache, daß der Bezirk al-Samouni kein kampfgebiet war, noch daß er zu allen relevanten Zeitpunkten der vollen Kontrolle israelische Bodentruppen unterlag, noch daß die israelischen Streitkräften der Familie al-Samouni über erst befohlen hatte, sich in das Haus zu begeben, das sie dann unter Beschuß nahmen, noch daß sie Krankenwagen die Zufahrt zur Evakuierung der Verwundeten verweigerten und grausam mit denjenigen umgingen, die selber Bergungsversuche unternahmen (statt wie befohlen „in den Tod“ zurückzugehen). Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß diese Tatsachen Goldstone unbekannt seien. Schließlich wurden sie in dem Bericht der Untersuchungsmission, deren Vorsitzender er gewesen war, sehr ausführlich beschrieben. So gesehen sind seine Auslassungen – die einen penibelst dokumentierten, äußerst grausamen, mörderischen Amoklauf in einen bedauernswerten Pfusch verwandeln – zutiefst unredlich.
Er versichert uns jedoch, daß „gegen einen israelischen Offizier ermittelt wird, weil dieser den Angriff befohlen hatte“, d.h. den Beschuß und nicht die anderen Greueltaten, die Goldstone wegläßt. „Zwar ist dieses Ermittlungsverfahren von ihrer Dauer her frustrierend“, fährt er fort, „doch erscheint es“ aufgrund keinerlei Beweise, „daß ein sachgerechtes Verfahren läuft.“ Obwohl er keinen Grund anführt, weshalb man glauben sollte, Israels interne „Untersuchungen“ über Kriegsverbrechen seien zur Beendung der ausführlich dokumentierten Kultur der Straffreiheit im israelischen Militär rundum überholt worden, ist Goldstone „davon überzeugt, daß Israel entsprechend reagieren wird, falls dem Offizier Fahrlässigkeit nachgewiesen wird.“
Es mag dahingestellt werden, daß mit der Bezeichnung „ein sachgerechtes Verfahren“ rein gar nichts darüber gesagt worden ist, ob das Verfahren unabhängig, transparent und glaubwürdig ist und den Geschädigten zu fairen Bedingungen die Teilnahme und Aussage ermöglicht. Noch brauchen wir uns mit dem gleichermaßen leeren Wort „entsprechen“ aufzuhalten. Das Bemerkenswertest an dieser Behauptung ist, daß Goldstone davon ausgeht, daß einem Offizier, der entweder den Befehl zum Amoklauf im Bezirk al-Samouni erteilte oder sich weigerte, diesen zu verhindern, obwohl er dazu verpflichtet gewesen war, höchstens „Fahrlässigkeit“ vorgeworfen werden könnte. Goldstone war früher Richter am Verfassungsgericht, und hat umfrangreiche Erfahrungen an verschiedenen Strafgerichtshöfen für Kriegsverbrechen gesammelt. Er weiß sicherlich ganz genau, daß zwischen bloßer Fahrlässigkeit – die Nichtausübung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt – mit Todesfolge und dem Grad an spezifischem Tatvorsatz, dessen Vorliegen offensichtlich gewesen wäre, hätte Goldstone die Handlungen der israelischen Streitkräfte im Bezirk al-Samouni vollständig geschildert, eine gähnende Kluft liegt. Offensichtlich reicht Goldstone selbst eine erdrückende Menge an Beweisen nicht aus, um Vorsatz zu bejahen, wenn es sich bei den Tätern um Israelis und nicht Palästinenser (deren Tatvorsatz „sich von selbst versteht“) handelt.
Goldstone auf dem Weg nach Kischinau
Über diesen schändlichen geschichtlichen Revisionismus ließe sich noch viel mehr sagen. Einige haben über Goldstones Motive spekuliert, und dabei auf die unablässige Belästigungs- und Einschüchterungskampagne gegen ihn hingewiesen, die fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Berichts begann. Goldstones Lob für die kosmetischen „Lehren“, die Israel aus der Sache gezogen haben soll (die bei ihrem Angriff auf die Mavi Marmara besonders eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurden), das naiv wäre, wenn es nicht von einem Mann ausgesprochen worden wäre, der ganz genau weiß, daß die Kultur der Straffreiheit völlig intakt ist, wäre auch einen Kommentar wert. Dieser Artikel käme jedoch zu kurz, wenn die womöglich abscheulichste Äußerung im ganzen Kommentar keine Erwähnung fände:
Ebenso sollte der Menschenrechtsrat die neuerliche unverzeihliche, kaltblütige Abschlachtung eines jungen israelischen Paares mit drei ihrer kleinen Kinder in deren Betten verurteilen.
Mit dieser faulen Bemerkung macht Goldstone die (völlig irrelevanten) neuerlichen Morden im Außenposten Itamar im palästinensischen Westjordanland zum Thema, als ob diese Tötungen, die mehr als zwei jahre nach dem Gazaer Massaker begangen wurden, irgendwie ein neues Licht auf jene israelische Greueltat werfen würden. Daß der Menschenrechtsrat Menschenrechtsverletzungen untersucht, die mit wenigen Ausnahmen nicht von Einzelpersonen, sondern von Staaten und staatsähnlichen Gebilden begangen werden, und seine Forderung somit völlig aberwitzig ist, brauchen wir nur am Rande zu bemerken. Selbst wenn es kein Aberwitz ware, die Tötungen in Itamar mit dem Gazaer Massaker in einem Atemzug zu erwähnen – Fakt bleibt, daß keiner weiß, wer der Täter ist. Zwar ist die israelische Regierung – und leider eine nicht unbedeutende Anzahl von Figuren von der israelischen „Linken“ – ohne jeglichen Beweis davon ausgegangen, daß die Tötungen bestimmt von Palästinensern begangen worden seien (oder von Gastarbeitern aus Thailand, aber natürlich könnte es unmöglich einer der Einwohner der Siedlung Itamar gewesen sein!), und dem sind Pogrome und Massenverhaftungen palästinensischer Zivilpersonen und thailändischer Gastarbeiter gefolgt, doch gibt es nicht mal die Spur eines Beweises, die die Annahme, der Täter sei Palästinenser, bestätigen könnte. Indem er diese durch nichts gestützte Annahme nicht nur verbreitet, sondern auch noch zur stillschweigenden relativierung des verbrecherischen israelischen Massakers in Gaza benutzt, hat Goldstone eine Tat begangen, auf die auch die guten Bürger Kischinaus stolz gewesen wären.
Einerlei, auf was für Motive diese gesammelten Verzerrungen und Verfälschungen der dokumentierten Tatsachen zurückgehen, kann man nur hoffen, daß es sich für ihn wenigstens gelohnt hat.